Storytelling – aber wieso?

Es gibt kaum etwas, das in der Sensibilisierung für IT-Sicherheit so wichtig und effektiv ist wie der Austausch von Geschichten und das gezielte Lernen anhand von Geschichten. Ist ja auch klar: Storytelling ist nichts, was in den frühen 2000ern ein Marketingmensch erfunden hat, weil ihm sein Anzeigenbudget gekürzt wurde. Vielmehr ist die Weitergabe von Informationen und das Lehren und Lernen von wichtigen Verhaltensregeln der Grund dafür, warum Menschen überhaupt angefangen haben, Geschichten zu erzählen. Denn: Hätten unsere Vorfahren ihre Zeit nicht besser verwenden können, als nach Einbruch der Dunkelheit am Lagerfeuer zu sitzen und die Ereignisse des Tages – oder vergangener Zeiten – in wild ausgeschmückte Geschichten zu fassen? Wäre es dem Überleben nicht zuträglicher gewesen, wenn sie sich statt dieser Zeitverschwendung für den nächsten Tag ausgeruht oder die Zeit zum Zeugen neuer Kinder genutzt hätten?

Nein. Viele tausend Jahre vor allgemeiner Schulpflicht oder PowerPoint dienten Geschichten nicht nur dazu, den anderen mitzuteilen, warum Hygbald nicht mehr von der Jagd zurückgekehrt war – sondern auch, ihnen beizubringen, die eklatanten Fehlentscheidungen, die zu seinem vorzeitigen Ableben geführt hatten, bei eigenen Jagdausflügen zu vermeiden. Unsere Gehirne haben sich also in Jahrtausenden dahin entwickelt, dass sie optimal aus Geschichten lernen, und unsere Geschichten – die alle auf einige wenige Muster zurückzuführen sind, wenn wir sie als unterhaltsam empfinden – haben sich so entwickelt, dass wir optimal daraus lernen können.

Kognitive Wissenschaftler haben sich näher mit der Frage beschäftigt, welche Mechanismen genau denn nun hier am Werk sind.

Ihre Antwort: Aufmerksamkeit, vertiefende Codierung (elaborative encoding), Wissensorganisation, Selbstbezug und Emotion.

Wenn es Ihnen so geht wie mir am Anfang der Beschäftigung mit dem Thema, dann sind Sie nach dieser Aufzählung genauso schlau wie vorher. Daher noch mal im Detail:

Aufmerksamkeit

Eine Geschichte hat eine typische Struktur: Ausgangssituation, Konflikt, teilweise Auflösung, dann wieder Verdichtung des Konflikts, Höhepunkt, Auflösung und Nachspann. Mit Hilfe dieser Struktur kann der Geschichtenerzähler die Aufmerksamkeit des Zuhörers oder Lesers genau darauf lenken, was wichtig ist. Auf ganz natürliche Weise zieht der Hauptkonflikt unsere Aufmerksamkeit auf sich, Nebenstränge der Handlung erhalten weniger Aufmerksamkeit, und Irrelevantes geht uns auf die Nerven, weil wir wissen wollen, wie es mit der Hauptgeschichte weitergeht.

James Pond Unsplash StorytellingVertiefende Codierung

Mit Codierung ist hier die Übertragung von Informationen aus dem Arbeitsgedächtnis in das Langzeitgedächtnis gemeint. Um das zu erreichen, muss man ein Material oft zwei-, dreimal oder öfter präsentieren. Nicht alle Arten von Wiederholung sind hierbei gleich nützlich: Bei der vertiefenden Wiederholung wird das Gelernte nicht nur wiederholt, sondern zu anderen Gedächtnisinhalten in Verbindung gesetzt und mit ihnen verknüpft. So ist das Gelernte in Zukunft leichter abrufbar. (Zum Thema, warum Kontext notwendig ist, um neu Gelerntes zu verstehen, siehe auch meinen Vortrag „Usable Security und der Wissensfluch“.)

Innerhalb einer Geschichte bieten sich zahlreiche Möglichkeiten, um neue Fakten mit anderen zu verknüpfen. Statt auswendig zu lernen, dass Verfügbarkeit eines der Ziele der Informationssicherheit ist, kann man den realen Fall eines Ransomware-Angriffs betrachten: Wie sieht es konkret aus, wenn der Stationspfleger den Rechner hochfährt und nicht mehr auf das KIS zugreifen kann? Welche Abläufe sind betroffen?

Wissensorganisation

Hier greift gleich der nächste Punkt aus dem vorhergehenden Fall: Welche anderen Schutzziele können durch einen Ransomware-Angriff in Mitleidenschaft gezogen werden – vielleicht die Vertraulichkeit? Werden die Daten also nur verschlüsselt oder auch zum Angreifer übertragen? So werden die Konzepte – die Schutzziele der Informationssicherheit – miteinander wie Knoten in einem Netzwerk verbunden.

Auch die Diskussion von Geschichten untereinander verbessert die Wissensorganisation: So werden sich Lernende nicht nur klarer darüber, wie sie selbst die Konzepte in Relation zueinander sehen, sondern auch, in welcher Form sie beim Gegenüber abgespeichert sind – möglicherweise nämlich ganz anders, und das muss nicht bedeuten, dass eine der beiden Versionen falsch ist.

Selbstbezug

Das fragen Schüler sich (und ihre Lehrer) seit Jahrhunderten: „Und wofür brauch ich das?“

Geschichten liefern die Antwort gleich mit: Du brauchst dieses Wissen, wenn Du Dich einmal in dieser oder einer ähnlichen Situation befindest. Und selbst, wenn das komplett unrealistisch sein sollte, so identifiziert sich eine Leserin oder ein Zuhörer doch unweigerlich immer zu einem gewissen Anteil mit dem Protagonisten einer Geschichte. Der Grund dafür:

Emotion

Sachverhalte, die eine emotionale Reaktion hervorrufen, werden besser im Gedächtnis gespeichert. Verantwortlich dafür ist die Amygdala, der sogenannte Mandelkern des Gehirns, die auch für körperliche Reaktionen auf Emotionen – beispielsweise Schweißausbrüche – zuständig ist. Am besten werden Inhalte abgespeichert, wenn der Lernende dabei mäßig emotional beteiligt ist – weder bei völligem Desinteresse noch bei höchster Panik lernt es sich gut. Diese mittelstarke Aktivierung kann gut durch Geschichten hervorgerufen werden: Man leidet und fiebert mit, kann sich aber, wenn die Emotionen zu stark werden, jederzeit wieder darauf besinnen, dass es ja nur eine Geschichte ist.

Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem Storytelling? Gibt es vielleicht auch Aufgaben, für die es nicht geeignet ist?