Nachtmenschen haben es in unserer Zivilisation nicht leicht: Schulunterricht ab 8 Uhr oder sogar früher, Kernarbeitszeit in den meisten Büros (trotz Gleitzeit und ähnlicher „Innovationen“) ab 9 oder spätestens 10, und auch in Großstädten muss man besonderes Glück haben, nach 22 Uhr noch einen offenen Supermarkt oder ein Restaurant mit warmer Küche zu finden.
Damit nicht genug: seit Jahren häufen sich die Studien, die Menschen mit Abend-Chronotyp (so der Fachbegriff für Nachteulen) nachweisen wollen, schlechter gelaunt, depressiver und aggressiver zu sein, eher an saisonalen Stimmungsschwankungen zu leiden, ein erhöhtes Risiko für Diabetes, Übergewicht und frühzeitigen Schwund der Muskelmasse zu haben und – um der Liste noch einen Punkt hinzuzufügen, der nicht nur nachteilig sein muss – risikofreudiger zu sein.
Gemessen wird der Chronotyp in der Wissenschaft oft mit dem Munich Chronotype Questionnaire, und auch in der Wissenschaft ist, wie in der Umgangssprache, oft von Lerchen (larks) und Eulen (owls) die Rede, wenn Morgen- und Abendtypen gemeint sind.
Schwer ist es, in solchen Beobachtungsstudien das Huhn vom Ei zu trennen: wenn zwei Effekte beobachtet wurden, was ist dann Ursache und was ist Wirkung? Sind Nachteulen (im Durchschnitt) schlechter gelaunt und aggressiver, weil sie viel früher aufstehen müssen als sie wollen, oder kommen schlecht Gelaunte später ins Bett? Gibt es einen weiteren, nicht beobachteten Faktor, der beides verursacht hat? Führt zum Beispiel viel Sport dazu, dass jemand eine höhere Muskelmasse hat und auch dazu, dass er oder sie abends früh ins Bett fällt?
Auch, wenn man einen dritten Einflussfaktor findet, klärt dass die Lage nicht unbedingt: In einer Studie mit 194 Diabetes-mellitus-Patienten wurde festgestellt, dass höhere HbA1c-Werte (ein Hinweis auf häufig erhöhte Blutzuckerwerte, also schlechter eingestellten Diabetes) mit abendlichem Chronotyp und dem Verzicht auf Frühstück korrelierten. Daraus lässt sich aber kein eindeutiger Schluss ziehen: Nachteulen lassen häufiger das Frühstück ausfallen, weil sie morgens zu müde sind oder zu spät aufstehen – führt dann der Mangel an Frühstück zu schlechter eingestelltem HbA1c, oder der abendliche Chronotyp, und das ausgefallene Frühstück ist nur ein Nebeneffekt? Führt der Verzicht auf Frühstück dazu, dass jemand erst spät am Tag in die Gänge kommt (also sich wie eine Nachteule verhält), und gleichzeitig zu schlechten Blutzucker-Werten, weil er oder sie später am Tag dann mehr und ungesünderes Zeug isst? Oder beeinflusst die Stoffwechsellage bei Diabetes auf irgendeine Art den Tagesrhythmus, so dass Diabetiker später müde und später wach werden (und dann keine Zeit fürs Frühstück mehr haben)? Ergebnisse einer anderen Studie deuten darauf hin, dass zumindest ein Teil der Beziehung zwischen hohen Blutzucker-Werten beim Diabetes mellitus und dem Abend-Chronotyp darauf zurückzuführen ist, dass Nachtmenschen mehr Kalorien beim Abendessen zu sich nehmen als andere Chronotypen.
Selbst, wenn man zweifelsfrei nachweisen würde, dass ein Abend-Chronotyp zu den oben genannten Problemen führt (und nicht umgekehrt), hätte das nicht unbedingt praktische Konsequenzen für Abendtypen, so lange die Frage nicht geklärt ist, ob man aus freien Stücken Nachteule ist oder die Biologie einen dazu zwingt.
Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass der Chronotyp sich im Laufe des Lebens ändert: in der Pubertät verschiebt sich die innere Uhr in Richtung Nacheule, in höherem Alter dann wieder in Richtung Morgenmensch. Frauen sind unter 30 Jahren im Durchschnitt eher Morgenmenschen als Männer, neigen in höherem Alter aber wieder eher zum Abendtyp. Auch, ob man ländlich oder städtisch wohnt, kann eine Rolle spielen. Leicht vorstellbar ist auch, dass die geographische Gegend die innere Uhr beeinflusst, da Sonneneinstrahlung und Lichtfarbe beispielsweise großen Einfluss darauf haben, wann und wieviel „Schläfrigkeitshormon“ Melatonin im Körper ausgeschüttet wird. Wenig beeinflusst wird der Chronotyp wohl davon, mit welchem Chronotyp man zusammenlebt – aber wie einige andere der oben zitierten Artikel ist auch dieser leider hinter einer Paywall gefangen, so dass uns interessante Schlussfolgerungen der Autoren womöglich entgehen. Eine ist aber laut Abstract schon mal, dass ein Morgentyp sich seltener mit einem Abendtypen zusammentut, weil sie sich im Alltag seltener über den Weg laufen – Beziehungen, die doch entstehen, seien aber nicht kurzlebiger oder unglücklicher als solche von gleichen Typen. (Da ist die Autorin dieses Artikels übrigens sehr erleichtert.)
Fazit: für einen Forschungsbereich, der so relevant für unser tägliches Leben ist wie die Chronobiologie, sind die Zusammenhänge von Chronotyp und Gesundheit noch erstaunlich unklar, und viele Studien sind nur retrospektiv anhand von Fragebögen und an geringen Probandenzahlen durchgeführt worden. Ich bin gespannt, welche neuen Einsichten uns noch bevorstehen.
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