Das Startup nevisQ aus Aachen hat ein innovatives Sensorsystem entwickelt, das die Sicherheit alter Menschen in der eigenen Wohnung und im Seniorenheim verbessern soll. Mit relativ einfacher und diskreter Hardware haben nevisQ es geschafft, gefährliche Situationen wie Stürze frühzeitig zu erkennen und zu melden, und das Ganze, ohne, dass der ältere Mensch etwas bei sich tragen muss. Wie das funktioniert? Sensoren in den Fußleisten des Raums nehmen die Aktivitäten in Fußhöhe wahr und leiten die Daten an einen kleinen Computer (einen Raspberry Pi) weiter, der daraufhin ein zweidimensionales Schema des Raums berechnet. Dieses Schema – und seine Änderungen – werden dann als Input für Machine-Learning-Algorithmen genutzt. Solche Verfahren, mit denen der Computer Gegenstände und ihre Bewegungen innerhalb eines Raums wahrnehmen kann, werden auch als Computer Vision bezeichnet. (Zu räumlicher Wahrnehmung mit Hilfe von Computern siehe auch diesen Eintrag hier auf Blinkenmed von letzter Woche.)
CC: Welche Idee war zuerst da, die Technologie oder der Anwendungsfall?
DB: Die Technologie – denn das Patent ist uns an der Uni im Rahmen eines Seminars vorgestellt worden. Unsere Aufgabe bestand darin, einen Businessplan daraus zu entwickeln. Nun haben wir fast alle Erfahrungen in der Pflegebranche gemacht und wissen daher, was Stürze im Alter für Auswirkungen haben können. Wir hatten aber auch das Gefühl, dass man das eventuell besser machen könnte, ohne diese ganzen Gerätschaften, die man mit sich führen muss – Wearables, Notrufknöpfe, sowas.
Wir haben mit dieser Idee im Kopf dann viele Gespräche geführt im Rahmen eines Businessplan-Wettbewerbs. Auch mit vielen Leuten aus der Pflegebranche, die meinten: „Ja, das ist etwas Gutes, sowas könnten wir gebrauchen.“ Und darauf aufbauend haben wir unser Konzept und unseren Businessplan erstellt, um die Idee umzusetzen.
CC: Was heißt das genau, dass Ihr alle drei aus der Pflege kommt?
DB: Ich hatte früher im Krankenhaus gearbeitet, in der Intensivstation und der „Inneren Aufnahme“. Da kommen alle möglichen Patienten rein – im Winter etwa viele Patienten, die zu Hause gestürzt sind und dann unter extremen Unterkühlungen leiden. 25 Grad Körpertemperatur waren das Schlimmste, was ich miterlebt habe. Diese Patienten müssen dann langsam wieder aufgebaut werden. Zusätzlich ist meine Mutter Altenpflegerin. Die kennt sich natürlich auch bestens in der ambulanten Altenpflege aus und hat davon oft erzählt. Christian hat mehrere Jahre im Botendienst in der ambulanten Pflege gearbeitet. David, was hast Du gemacht?
DL: Ich war in der Intensivpflege.
DB: Ja, genau. Deswegen kannten wir so ein bisschen die Umgebung und hatten dann schnell den Gedanken: „Da muss man was machen.“ So viel zum Background.
CC: Könnt Ihr einen kurzen Überblick darüber geben, welche Techniken Eure Mitbewerber verwenden?
DB: Es gibt verschiedene Ansätze rund um unsere Lösung. Der unserem Ansatz ähnlichste ist SensFloor. Das ist ein Boden, in den Sensoren verbaut werden – also unter den Teppich oder das Parkett. Dafür muss der Raum komplett umgebaut werden, und das ist natürlich teuer. Eine andere Lösung, die gelegentlich mit unserer verglichen wird, sind Sensormatten, die vor dem Bett liegen. Wenn der Bewohner dann aufsteht, wird das der Pflegekraft gemeldet – oder auch, wenn der Bewohner gefallen ist. Dann gibt es noch verschiedene andere Möglichkeiten wie zum Beispiel Infrarotsensoren, die im Prinzip den Bereich vor dem Bett abscannen. Aber diese können jeweils nur einen kleinen Bereich abdecken. Und im Privatbereich gibt es dann noch eine Art Kameralösung – nicht mit einer echten Kamera, aber es ergibt sich ein Bild ähnlich wie von einer Kamera. Von so etwas wollen wir uns aber absetzen und sagen: „Privatsphäre muss bleiben.“ Eine Kamera in einem Badezimmer aufzustellen, das ist nicht so gut. Mal ganz davon abgesehen, dass die Sensoren bei Wasserdampf schlechter funktionieren. Die Vorteile unserer Lösung sind: Sie muss nicht aufgeladen werden, der Nutzer muss sie nicht bei sich führen, und er muss nichts selber aktiv auslösen.
CC: Eure Kunden sind ja erst einmal Pflegeheime. Habt Ihr systematische Marktforschung gemacht unter den Pflegenden oder habt Ihr Euch darauf konzentriert, persönliche Gespräche zu führen und dabei in die Tiefe zu gehen?
DB: Wir haben uns eigentlich nur auf persönliche Gespräche eingelassen, in mehreren Pflegeheimen, mit mehreren Pflegekräften aus der direkten Versorgung und den Pflegedirektionen. Wir wollten dort auch lernen: Wie ist der tägliche Ablauf im Leben einer Pflegekraft, wie können wir das angenehm integrieren? Wir haben auf diesem Weg viel zu den Problemen in der Pflege gehört. Klar, wir haben natürlich auch recherchiert, was es für Lösungen gibt, und welche Studien bereits existieren, aber der Schwerpunkt lag auf persönlichen Gesprächen.
CC: Du hast gerade schon die möglichen Datenschutz- oder Privatsphärebedenken von Seiten der Bewohner angesprochen. Habt Ihr darüber auch schon mit den Bewohnern selbst diskutiert?
DB: Noch nicht. Das wird jetzt im Zuge der Testphase auch gerade ausbaldowert – also, deren Pain Points zu finden. Wir werden auch offen kommunizieren, dass wir keine sensiblen, personenbezogenen Daten von ihnen sammeln, nur raumbezogene Daten.
CC: In Österreich gab es ja ein Pilotprojekt zur Sturzerkennung, bei dem berichtet wurde, dass einer der Hauptbenefits die bessere Nachtruhe der Patienten ist. Die Technik führte dazu, dass die Pflegekraft eben nicht mehr dreimal pro Nacht jedes Zimmer gecheckt hat – was Bewohner mit leichtem Schlaf sonst immer aufgeweckt hat.
DB: Unseren Benefit sehen wir am ehesten darin, dass die Pflegekraft nachts benachrichtigt wird, wenn ein Bewohner aufsteht. Also Sturzprophylaxe statt Sturzerkennung. „Da steht die Frau Soundso gerade aus dem Bett auf und möchte zur Toilette gehen. Vielleicht braucht sie Hilfe.“ Zeitgleich wollen wir das Licht anschalten, damit sich die Person orientieren kann, automatisch. Das wäre der, sagen wir mal, Smart-Home-Gedanke. Das kann auch heißen, dass die Pflegekraft auch – wie du das gerade schon gesagt hast – nicht ständig in den Raum gehen muss. Natürlich habe ich da gewisse rechtliche Rahmenbedingungen, aber die Pflegekraft kann leichter den Überblick behalten.
CC: Ist dieses Smart-Home-Element schon Teil der ersten Erprobung?
DB: Ja, genau. Das funktioniert schon, dass ein gewisser Bereich betreten wird und damit das Licht ausgelöst wird.
CC: Super. Dann sprechen wir noch ein bisschen über die Datenanalyse. Wir hatten ja im Showroom schon kurz angesprochen, dass Ihr einen Raspberry Pi benutzt. Das ist bei der Erprobung sicher immer noch der Fall?
DB: Ja, alle Systeme sind in der Testphase auf dem Raspberry Pi.
CC: Und welche Daten gehen dann vom Raspberry Pi nach draußen?
DB: Diese Frage gebe ich mal weiter.
SK: In der Anfangsphase werden wir alle Daten tracken, also auch die Rohdaten. Das ist wirklich nur für uns gedacht, um das Modell zu generieren. Später werden es nur noch Events sein, die vor der Übermittlung anonymisiert werden.
CC: Kannst Du noch ein paar Worte dazu sagen, welches Machine-Learning-Verfahren ihr einsetzt?
DL: Das Machine Learning hat mehrere Komponenten: Das ist einmal Computer Vision und dann Open CV, mit deren Hilfe zweidimensionales Abbilder der Objekte im Raum generiert werden. Diese gehen dann in ein Klassifizierungsmodell. Die Aktionen, die abhängig von der Klassifizierung ausgelöst werden, können auch von weiteren Variablen abhängen: Zum Beispiel wird immer ein Alarm generiert, wenn eine Person stürzt, aber wenn sie aufsteht, wird nur nachts ein Alarm ausgelöst. Und dann haben wir noch eine längerfristige Strategie, um Bewegungsprofile zu generieren. Hier kann man beispielsweise einen Risikoindikator für Stürze entwickeln
CC: Die Daten würden dann beispielsweise so interpretiert: „Diese Bewohnerin hat sich in den letzten 14 Tagen immer weniger von der Couch erhoben; der Gesundheitszustand wird schlechter.“
DL: Genau. Das System teilt den Raum in verschiedene Regionen auf, mit verschiedenen Eigenschaften, zum Beispiel Bett oder Sofa.
DB: Dann, wenn jemand auf der Couch ist oder im Bett ist, könnte man daraus schließen: „Okay, die Person ist vielleicht nicht mehr aktiv genug.“ Das Aktivitätsniveau hat sich möglicherweise im Vergleich zu früher verringert. Das kann als eine kleine Variable in dem ganzen Sturzindikatorsystem dienen.
SK: Und wenn der Indikator steigt, kann man beispielsweise eine Therapie einleiten oder Hüftprotektoren anlegen.
CC: Denkt Ihr nach all Euren Erfahrungen jetzt, dass der ganze Markt von digitalen Lösungen, die sich entweder an Ältere richten oder an ihre Pflegepersonen, noch viel Platz hat? Gibt es weniger Angebot als Nachfrage, oder ist der Markt schon übersättigt?
DB: Das ist ein sehr zweischneidiges Schwert. Einerseits gibt es sehr, sehr viele Lösungen, die sehr, sehr lange auch schon am Markt etabliert sind. Aber viele Lösungen sind aus diesem Grund auch im Prinzip schon veraltet – also aufwändig zu nutzen oder nicht umfassend genug. Das war ein häufiges Feedback aus der Pflege: Es gibt so viele Insellösungen und so wenig Lösungen, die mehrere Anforderungen decken. Wir versuchen, so eine umfassende Lösung zu sein. Natürlich ist der Markt schon relativ konservativ, und da haben es neue Lösungen schwer. Wenn man ganz unvoreingenommen da herangeht, würde man uns vielleicht raten: „Schwierig, lasst es lieber sein. Fangt lieber woanders an.“ Aber wir haben mitbekommen, wie groß der Bedarf ist. Und viele aus der Pflege haben gesagt: „Genau das brauchen wir!“
CC: Du meinst, der Markt ist zu großen Teilen noch in der Hand von etablierten, großen Firmen, die aber mit ihren Lösungen nicht immer aktuell auf dem Stand der Technik sind.
DB Ja es gibt sehr viele etablierte große Firmen, wie beispielsweise Sensormatten-Anbieter, die bieten ein vergleichsweise teures Produkt an insbesondere, wenn man den Funktionsumfang betrachtet. Darüber hinaus gilt so eine Matte auch als Stolperfalle.
CK: Vielleicht sollte man da auch noch unterscheiden zwischen stationärer Pflege und häuslicher Pflege. Ich denke, in der stationären Pflege gibt es nicht so viele Innovationen, in der häuslichen Pflege eher. In den USA noch mehr als hier. Da wird viel mit Bewegungssensoren gemacht.
CC: Jetzt würde ich noch einmal gern eine spekulative Frage stellen, und zwar: Wie stellt Ihr Euch denn die Welt oder auch nur Eure Wohnung vor, wenn ihr in 30, 40 Jahren mal selber auf Hilfe angewiesen seid?
DB: Vollkommen automatisiert, würde ich fast sagen. Die Wohnung sollte eigentlich komplett verbunden sein. Tägliche Routinen, die automatisiert werden können, sind automatisiert. Die Wohnung weiß schon, ich stehe um acht Uhr auf, und dann sollten die Rollläden automatisch hochgezogen werden. Dahinter steht der Komfort-, aber auch der Sicherheitsgedanke.
CC: Wird es humanoide Roboter als Haushaltshelfer geben?
DB: Ja, in Japan… Ich bin da momentan noch sehr, sehr hin- und hergerissen, muss ich sagen. Generell ein guter Ansatz, aber viele sträuben sich dagegen. Ich denke, das wird irgendwann kommen, dass Roboter viele Arbeiten übernehmen können und werden.
CC: Auch menschenähnliche Roboter? Also nicht nur Roomba und Co.?
DB: Hm, kennst du die Serie Westworld?
CC: Nein, kenne ich nicht.
DB: Okay. Musst du dir mal angucken. Die handelt von Robotern, die Menschen sehr ähnlich sehen und eine eigene Intelligenz entwickeln. Sehr, sehr coole Serie – wird dir auf jeden Fall gefallen. So ähnlich könnte ich persönlich mir das vorstellen.
CC: Bis dahin müssen wir im Bereich Akzeptanz noch einiges aufholen.
DB: Ja, auf jeden Fall. Schon bei dieser kleinen Roboter-Robbe – wie heißt die, Paro – sind viele abgeschreckt und stellen sich vor, wie die jetzt zur Beschäftigung einer Oma in die Hand gedrückt wird. Darüber kann man ja auch diskutieren. Aber ich glaube, dass in Zukunft eine höhere Akzeptanz da sein wird.
CK: Ich persönlich denke, dass es ganz langfristig gar keinen großen Unterschied mehr geben wird zwischen Menschen und Robotern. Das werden wir nicht mehr erleben, aber das wird kommen.
CC: Wie bei Star Trek – Data und so.
CK: Genau.
Danke an das Team von nevisQ für das spannende Interview! (Ich bin jetzt weg, „Westworld“ gucken.)
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