Sucht künstliche Intelligenz bald das medizinische Personal aus?

Ein Gastbeitrag von Michael Stowasser im Rahmen unseres Kooperationsprojekts mit der FHWS.

Häufig dauert der gesamte Prozess von der Bewerbung für eine Stelle bis zur Zusage mehrere Monate. Lange Reaktionszeiten sind ein Hauptgrund dafür, dass Bewerber den Prozess abbrechen [1]. Durch künstliche Intelligenz (KI) kann der Bewerbungsprozess beschleunigt und die Personalabteilung entlastet werden. Entscheidet KI bald auch über die Einstellung des medizinischen Personals?

Ein technologischer Ansatz ist die Bewertung von Bewerbungsunterlagen durch KI, jedoch reichen diese Unterlagen für eine Personalentscheidung häufig nicht aus.

Eine weitere innovative Technologie ist die Nutzung einer KI-basierten Sprachanalyse, die Persönlichkeitsmerkmale aus dem gesprochenen Wort ableitet. Eine Sprachanalysesoftware wird vom deutschen Unternehmen PRECIRE entwickelt [2], die bereits von Unternehmen wie der AOK oder dem Versicherungskonzern Talanx eingesetzt wird [3].

Der Bewerber bekommt von einem Computerprogramm telefonisch mehrere Fragen gestellt. Dazu gehören auch persönliche Fragen wie, „Beschreiben Sie den Ablauf eines typischen Sonntags“ oder „Wie ging es Ihnen in den letzten Wochen? Wie haben Sie sich gefühlt?“ [4]. Der konkrete Inhalt des Gesprochenen spielt keine Rolle [5], sondern u. a. die Stimmlage und die Verwendungshäufigkeiten einzelner Wörter.

Die Sprachanalysesoftware misst dabei unterschiedliche Informationen auf mehreren Ebenen (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Messebenen von PRECIRE, in Anlehnung an [6].

Auf der ersten Ebene werden über 500.000 einzelne Sprachmesspunkte, z. B. die Sprechgeschwindigkeit oder die Satzlänge gemessen. Die Messpunkte werden auf der zweiten Ebene kombiniert und weitere Informationen werden abgeleitet. Dazu gehört die Sprachkomplexität, die sich unter anderem aus Wort- und Satzlänge sowie dem Verhältnis von Haupt- und Nebensätzen zusammensetzt. Die dritte Ebene bildet Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen ab, wie Durchsetzungsvermögen, Entscheidungsfreude oder Einsatzbereitschaft. Die letzte Ebene bestimmt Persönlichkeitseigenschaften, z. B. Neugier, Risikofreude, Selbstorganisation und Autonomie [6]. Bei Ärzten sollte beispielsweise die Risikofreude nicht zu hoch sein, sondern Risiken sollten abgewogen und minimiert werden.

Für diese persönlichen Merkmale trifft die Software Wahrscheinlichkeitsaussagen und bewertet die Abweichung vom Durchschnitt. Dazu wird unter anderem maschinelles Lernen eingesetzt, d. h. ein Computer erkennt Muster zunächst auf Basis von Beispieldatensätze und nutzt diese verallgemeinert für eine zukünftige Sprachanalyse. Für die Beispieldatensätze wurde die Sprache von Testpersonen analysiert und klassische Persönlichkeitstests durchgeführt [6, 7].

Kritiker sehen PRECIRE als Blackbox, bei der für den Arbeitgeber nicht erkenntlich ist, wie genau persönliche Eigenschaften aus der Sprache abgeleitet werden. Zudem gibt es zwar einen Zusammenhang zwischen Sprache und Persönlichkeit, jedoch sind die bisher nachgewiesenen Zusammenhänge in der Forschung sehr gering [8].

Befürworter des Einsatzes von Sprachanalysesoftware sehen als Vorteile sowohl finanzielle als auch zeitliche Ersparnisse. Zudem sei die Software objektiver als Menschen, die unbewusste Vorurteile haben [9]. In der Praxis macht beispielsweise das Unternehmen Randstad Deutschland überwiegend positive Erfahrungen mit der Sprachanalysesoftware [8].

Zusammengefasst wird die Sprachanalyse schon heute in wenigen Unternehmen erfolgreich eingesetzt. Zwar trifft die KI in diesen Unternehmen noch keine Personalentscheidungen, jedoch bestimmt die KI bereits indirekt durch die Bereitstellung der Bewertungsergebnissen mit. Ob zukünftig medizinisches Personal per Sprachanalyse ausgewählt wird, hängt von folgenden Voraussetzungen ab.

Zum einen muss der Zusammenhang zwischen Sprache und Persönlichkeit stärker erforscht und nachgewiesen werden. Sollte die Sprache allein für einen aussagekräftigen Rückschluss auf die Persönlichkeit nicht ausreichen, könnten ggf. per Videointerview weitere Merkmale einfließen, wie beispielsweise die Gestik und Mimik des Bewerbers.

Zum anderen ist die Akzeptanz seitens der Bewerber für die Messung von Persönlichkeitseigenschaften notwendig. In Zeiten des Fachkräftemangels im medizinischen Bereich ist nicht jeder Bewerber bereit, dem Arbeitgeber die eigene Persönlichkeit in diesem Detaillierungsgrad offen zu legen.

Referenzen

[1]   softgarden e-recruiting GmbH, Hg., „Bewerbungsreport: Wie nehmen Kandidaten aktuell Recruitingprozesse wahr?“, 2019.

[2]   PRECIRE Technologies GmbH, PRECIRE. [Online] Verfügbar unter: https://precire.com/. Zugriff am: 2. Juni 2019.

[3]   P. Ilg, Robo-Recruiting: Künstlich intelligente Personalentscheidungen. [Online] Verfügbar unter: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Robo-Recruiting-Kuenstlich-intelligente-Personalentscheidungen-4188293.html. Zugriff am: 2. Juni 2019.

[4]   K. Rudzio, Künstliche Intelligenz: Wenn der Roboter die Fragen stellt. [Online] Verfügbar unter: https://www.zeit.de/2018/35/kuenstliche-intelligenz-vorstellungsgespraech-interview-test/komplettansicht?print. Zugriff am: 2. Juni 2019.

[5]   S. Przybilla, Aachen: Wenn der Computer zum Gespräch bittet. [Online] Verfügbar unter: https://www.suedkurier.de/ueberregional/wirtschaft/Software-Analyse-Was-die-Stimme-ueber-unseren-Charakter-verraet;art416,9119101. Zugriff am: 2. Juni 2019.

[6]   A. Linnenbürger, C. Greb und D. C. Gratzel, „PRECIRE Technologies“ in Psychologische Diagnostik durch Sprachanalyse: Validierung der PRECIRE®-Technologie für die Personalarbeit, K. P. Stulle, Hg., Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 2018, S. 23–56.

[7]   Pia Lorenz, Pre­cire weiß, was Du letzten Sommer getan hast. [Online] Verfügbar unter: https://www.lto.de/recht/job-karriere/j/kuenstliche-intelligenz-legal-tech-precire-persoenlichkeitstest/.

[8]   N. Bärschneider, Sprachanalysesoftware – das Recruitingtool der Zukunft? [Online] Verfügbar unter: https://www.humanresourcesmanager.de/news/sprachanalysesoftware-das-recruitingtool-der-zukunft.html. Zugriff am: 2. Juni 2019.

[9]   A. Leister, Vorstand von Computers Gnaden: Viele Unternehmen lassen Bewerber für Spitzenposten erst einmal mit einer hochintelligenten Software telefonieren, Frankfurter Rundschau. [Online] Verfügbar unter: https://www.fr.de/wirtschaft/vorstand-computers-gnaden-10974824.html. Zugriff am: 2. Juni 2019.


Über den Autor: Michael Stowasser studiert Informationssysteme im Master an der Hochschule für angewandte Wissenschaften, Würzburg-Schweinfurt und hat zuvor den Bachelorstudiengang Wirtschaftsinformatik abgeschlossen.