Interview: Wolkenlos – E-Health ohne Cloud

Briefe und Befunde einfach zwischen Ärzten austauschen, ohne Papier, CDs oder andere Hilfsmedien: Wie lässt sich das technisch umsetzen? Klar, ein zentralisierter Server muss her – alternativ eine Cloud.

Oder?

Unter Hamburger Ärzten und Patienten ist mittlerweile eine Lösung etabliert, die ganz ohne Cloud oder zentralisierten Datenspeicher auskommt. Entwickelt wurde sie vom Startup LifeTime unter der Leitung von Dr. Johannes Jacubeit. Warum LifeTime sich gerade für diese Lösung entschieden hat, wie die ersten Babyschritte aussahen und welche Patienten am „digitalsten“ sind, darüber haben wir im folgenden Interview gesprochen.

Johannes Jacubeit, LifeTime-Gründer
Interview mit Johannes Jacubeit, LifeTime-Gründer

Danke, dass Du Dir die Zeit für das Interview nimmst, Johannes! Was mich zuerst interessiert: Warum habt Ihr für Euer Projekt nicht die übliche Cloud-Lösung gewählt?

Relativ einfach: Wenn man sich die Medizin anguckt, dann funktioniert sie komplett anders als alle anderen Branchen. Das heißt, wir haben zwei Parteien, Arzt und Patient. Ein Patient geht zu vielen Ärzten und ein Arzt sieht viele Patienten. Das heißt, wir haben eine End-zu-End-Beziehung von vielen Leuten, die ganz unterschiedlich aufeinander treffen. Wenn ich als Patient zu einem Arzt gehe, dann möchte ich mich eigentlich nicht darum kümmern müssen, was der für ein System nutzt. Sondern ich nutze mein System, ich bin in meiner Welt. Meine Welt ist typischerweise eine smarte Welt, vielleicht nutze ich WhatsApp, vielleicht habe ich eine Diabetes-App.

Wenn ich also zum ersten Arzt komme, dann müsste ich mich, wenn es eine Cloud-Lösung gäbe, in die des Arztes einloggen. Wenn ich zum nächsten Arzt komme, müsste ich mich in die nächste Cloud-Lösung einloggen. Wenn ich zum nächsten Arzt komme, wieder in die nächste. Das heißt, wir haben eine Beziehung von einem Patienten zu viele Ärzten und die Ärzte nutzen alle unterschiedliche Systeme.

Ich glaube, dass ein anderer Weg – eine Cloud-Lösung – schlichtweg nicht funktioniert, weil wir zu viele beteiligte Parteien haben.

Drehen wir das Ganze um und schauen die Arzt-Seite an: Wenn ich als Arzt einen Patienten sehe und der sagt mir: „Hier, du kannst dich jetzt in der Cloud A einloggen“, dann mach ich das vielleicht noch. Wenn der zweite Patient kommt und sagt „Du, du musst dich in Cloud B einloggen“, dann wird’s schon irgendwann schwierig. Das heißt, wie haben in dieser End-zu-End-Beziehung ein großes Problem aufgrund der unterschiedlichen Ökosysteme.

Deswegen ist unser Ansatz, zu sagen: Der Patient kann doch wählen, was er möchte. Der kann seine Daten in irgendeine Cloud legen, das ist uns völlig egal. Aber wenn er beim Arzt ankommt, dann sollte er die Daten übergeben können. Der Arzt sollte es aber genauso haben wie bisher auch: Er kriegt etwas und er macht etwas damit.

Ich glaube, dass ein anderer Weg – eine Cloud-Lösung – schlichtweg nicht funktioniert, weil wir zu viele beteiligte Parteien haben. Macht das Sinn?

Sehr interessant, dass Ihr das aus dem Grund der Benutzbarkeit gemacht habt. Meine erste Idee war, dass Ihr aus Datenschutzgründen auf eine Cloud-Lösung verzichtet habt. Aber das wäre wiederum mutig gewesen, da Lösungen, die nur mit Datenschutz punkten, sich oft schlecht verkaufen.

Der Datenschutz ist ein positiver Nebeneffekt. Die Daten liegen wirklich nur beim Patienten, nicht bei uns. Er selbst kümmert sich darum, wenn diese Daten irgendwo anders gespeichert werden sollen als bei ihm, und das machen wir ihm so leicht wie möglich.

Wie bekommt Ihr es denn hin, dass LifeTime mit allen Praxis- und Kliniksystemen kompatibel ist, wie es auf der Webseite steht?

Genau, ich kann dir das einmal kurz zeigen. Das ist diese kleine Hardware, die steht auf dem Tresen und hat verschiedene Anschlüsse.

LifeTime App und Hub
LifeTime App auf dem Smartphone mit LifeTime Hub

Der grundsätzliche Prozess in einer Arztpraxis ist „Drucken“. Dieser Prozess ist überall gleich. Genau in diesen Prozess klinken wir uns ein. Deswegen funktionieren wir mit jedem System zusammen.

Und andersrum gibt es natürlich einen anderen Schritt, nämlich das „Importieren“. Wenn ich als Arzt ein Papier in die Hand bekomme, dann scanne ich das und importiere es ins System. Bei uns fällt natürlich das Scannen weg, aber der Importschritt ist der gleiche. Arzt oder Schwester haben dann aber noch die persönliche Kontrolle, was wirklich zum Patienten hinzugefügt wird. Damit sind wir unabhängig von den Arzt- und Klinikinformationssystemen, das ist ein Riesenvorteil.

Also arbeitet Ihr im Prinzip mit PDFs?

Wir arbeiten auch mit PDFs, genau. Wir arbeiten aber auch mit Bild, also mit DICOM-Files, da funktioniert es ein bisschen anders. Wenn ich als Radiologe ein Bild herausgeben möchte, dann drucke ich es, oder ich übergebe es über eine CD. Man kann sich vorstellen, wir sind dann so eine Art „CD-Brenner“, nur dass das Handy dann quasi die CD ist.

Ich glaube, die eGK kann etwas nicht abbilden, was wir abbilden können, und wir können andererseits etwas nicht abbilden, was die eGK abbilden kann.

Habt Ihr Euch schon Gedanken gemacht, wie das Zusammenspiel mit der eGK und Telematik-Infrastruktur funktionieren wird?

Ganz einfach. Nehmen wir mal an, es ist jetzt Mitte 2017, die komplette Infrastruktur steht und es läuft. Ich glaube, die eGK kann etwas nicht abbilden, was wir abbilden können, und wir können andererseits etwas nicht abbilden, was die eGK abbilden kann.

Wenn ich mir ganz konkret vorstelle, ich stehe als Patient am Tresen mit meiner eGK und sage: „Sie dürfen aber nur diese und jene Befunde anschauen“. Wie ist die User-Experience, um das überhaupt auswählen zu können? Dazu braucht es ein Interface. Wir haben dieses Interface.

Anders herum glaube ich, dass wir diese Rieseninfrastruktur gar nicht bauen können, das wollen wir auch gar nicht. Wir sind die User-Experience für den Patienten, das ist das Thema.

Habt Ihr aktuell schon eine Lösung für den Medikationsplan?

Den aktuellen Medikationsplan auf Papier können wir sehr gut abbilden, das ist eines unserer Kernprodukte. Den Medikationsplan digital werden wir beispielsweise aus anderen Apps importieren. Die smarte Funktionalität, die sehen wir bei anderen Apps. Das ist einfach ein unglaublicher Entwicklungsaufwand. Hier möchte man beispielsweise auch, dass an den Arzt zurückgespielt wird, ob der Patient die Medikamente eingenommen hat. Ärzte kennen das ja noch gar nicht, dass smarte Daten zurückgespielt werden.

Du hast ja wahrscheinlich auch die Erfahrung gemacht, dass Ärzte auch oft Berührungsängste haben, was neue Techniken angeht. Wie habt ihr denn die ersten Ärzte für LifeTime begeistert?

Also ganz, ganz, ganz am Anfang, da haben wir ja die Hardware, die ich dir gezeigt habe, noch selber gelötet, und haben die ersten zwei Apps in den Store gebracht. Ganz banal: Ich bin erst in eine Praxis reingelaufen und hab gesagt: „Guck mal, jetzt musst du nicht mehr drucken, sondern du gibst das auf das Smartphone und ab dem Zeitpunkt wird garantiert kein Kollege mehr anrufen und irgendwelche Befunde zu diesem Patienten einfordern. Der Patient hat sein Smartphone garantiert dabei, und damit auch die Befunde.“

Wir müssen hier eine Dienstleistung erbringen und zu dieser Dienstleistung gehört ein Termin, digitale Befunde, irgendwann auch die Video-Sprechstunde.

Und der Kollege hat dann gesagt: „Das finde ich super. Das sind Daten, die ich brauche – ich mache mit!“. Der fand das halt einfach cool. So sind wir an die ersten zwei Testpraxen gekommen.

Dann haben wir uns mit in die Praxen gestellt und zugeguckt und geguckt, was funktioniert, was funktioniert nicht, und haben Feedback von Patienten bekommen. Jetzt ist das Hauptargument für die Praxen immer noch, dass man sehr viel Zeit spart, wenn man einen Befund digital an den Patienten übergibt. Das zweite ist der Service-Gedanke: Es gibt zunehmend mehr Praxen, die sagen,  wir müssen hier eine Dienstleistung erbringen und zu dieser Dienstleistung gehört ein Termin, digitale Befunde, irgendwann auch die Video-Sprechstunde. Und wir sind der Kanal der Befundübermittlung in diesem Konstrukt.

Für den Patienten sieht das in der App so aus: Ich habe eine Übersicht über meine Ärzte, und wenn ich auf den Arzt klicke, habe ich sein Profil, Standort, Telefonnummer, Webseite. Dieses Interface gibt es mit etwas weniger Funktionalität übrigens auch auf unserer Webseite.

Das heißt auf gut Deutsch, ich als Arzt platziere mich auf dem Smartphone des Patienten und ich weiß, wenn es drauf ankommt, kann der Patient einfach klicken und mich anrufen – in der Praxis, nicht privat natürlich. Das ist also vor allem für marketinggetriebene Ärzte ein Argument.

Deiner Erfahrung nach, was sind das für Patienten, die an erster Stelle der Nutzer stehen?

Von außen hören wir immer die Erwartung, dass es vor allem junge Patienten sind. Das, was wir an Feedback von Arztpraxen hören – wir haben ja selbst keine Patientendaten – ist, dass die Generation 65+ es am besten findet. Das ist die Generation, die viel Zeit hat, sich mit dem Smartphone zu beschäftigen, die noch jung genug sind, dass sie ein Smartphone haben und die aber schon regelhaft zum Arzt gehen oder ein Wehwehchen haben. Da kriegen wir auch viele positive Ratings und Feedback. Patienten rufen uns teilweise an und sagen: „Ich find das klasse, aber ich möchte gern noch das und das und das in der App haben.“ Das sind tatsächlich viele im oberen Drittel des Lebensalters.

Darüber freuen wir uns auch. Die heutigen Jungen werden es früher oder später sowieso nutzen, wenn sie älter werden.

Danke, Johannes, für das Interview!

Mehr Infos zu LifeTime und dem LifeTime Hub gibt es auf: www.lifetime.eu.


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