Das Internetorakel: Silizium, Stahl und Katzen

The Internet Oracle has pondered your question deeply. Your question was:

When the cat meows at me to do something (open a door, serve
dinner, etc.) is it thinking "I'm communicating with another
living being" or is it thinking "This is a machine that I
can activate by meowing at it"?

And in response, thus spake the Oracle:

The cat's slave is thinking too much.

Feed your cat.

Das Internet ist berüchtigt für seinen „Cat Content“ (der im englischen Sprachraum übrigens anders heißt, nämlich „Cats on the internet„).

Cat Content gab es, wie das obige Beispiel zeigt, lange vor YouTube und Know Your Meme – und lange bevor das Internet gleichbedeutend mit dem Web war.

Als das Netz noch jung war, war das World Wide Web – also HTTP – nur eins von vielen gängigen Protokollen. Nur ein paar davon haben bis heute überlebt und wurden weiterentwickelt, etwa HTTP zu HTTPS und FTP zu SFTP. Andere sind fast vergessen, überleben aber noch in Nischen. Darunter auch das Usenet.

Das Usenet ist ein Netzwerk von Diskussionsforen, den Newsgroups. Diese waren eine Art frühes Reddit: Für jedes denkbare Thema gab es eine Newsgroup, von rec.pets.dogs.health über über soc.culture.pakistan.history bis hin zu alt.food.chocolate.

Und eben rec.humor.oracle.

Hier residierte seit 1989 das Usenet Oracle: ein war ein vom einstigen Informatikstudenten Steven Kinzler geschriebenes Skript (basierend auf früheren Skripten anderer Autoren). Das Orakel war keineswegs, wie man heute vermuten könnte, ein komplexes Meisterwerk aus Natural Language Processing und Machine Learning. Vielmehr war es ein einfaches Skript mit folgenden drei Funktionen:

  • Eine E-Mail mit einer Frage von einem Fragesteller an einen Beantworter weiterzuleiten.
  • Die E-Mail mit der Antwort zurück an den Fragesteller zu leiten.
  • Fragen und Antworten automatisiert als „Digest“ in rec.humor.oracle zu posten.

Fragesteller wurden scherzhaft auch als Supplikanten (supplicants) bezeichnet, Beantworter als Inkarnationen (incarnations) des Orakels. Supplikanten und Inkarnationen blieben einander gegenüber (und für die gesamte Usenet-Öffentlichkeit) anonym.

Jeder konnte (und kann) teilnehmen: wer eine Frage per E-Mail mit „tell me“ im Betreff an die E-Mail-Adresse des Orakels schickt, erhält innerhalb einiger Tage eine Antwort – und eine Frage, die er oder sie selbst beantworten muss. Wer nur antworten und nicht fragen will, der schreibt eine E-Mail mit „ask me“ im Betreff.

Mitte der 1990er siedelte das Usenet Oracle über ins Web und nannte sich fortan The Internet Oracle.

Seine Orakularitäten waren nicht nur Cat Content, bevor der zum feststehenden Begriff wurde. Manchmal sagte das Orakel auch versehentlich die Zukunft voraus – hier in einer Antwort von 1996:

The Internet Oracle has pondered your question deeply. Your question was:

Why are all my e-mail messages delayed 55 seconds before my
computer finally sends them out?

And in response, thus spake the Oracle:

It takes that long to assemble the copy that gets sent
to the National Security Agency.

Immer wieder geraten die Supplikant*innen in Versuchung, dem Orakel philosophische Fragen zu stellen:

The Usenet Oracle has pondered your question deeply. Your question was:

who you are ... and what are you made of ?
who am I ... and what am I made of ?

can I make you ?
can you make me ?

And in response, thus spake the Oracle:

I am the great and wise Usenet Oracle ...  I am made of electrons and
light, silicon and steel, as a matrix realizing and amplifying the
collective experience and wisdom of the entire Net.

You are presumably a self-aware system of symbols and thoughts, perhaps
based on a compact and dense electrochemical architecture, perhaps on a
more 'conventional' computer.  That question is one that an AI project
*would* ask, but one never knows.

Yes, and yes.

Fragen wie diese – nach der Natur des Menschen und des Internets, und nach dem Verhältnis dieser beiden – sind in den Digests des Orakels eher die Regel als die Ausnahme.

Über das Phänomen des Internetorakels ist schon viel geschrieben worden, über seine Rolle in der Hacker-Subkultur, als Ausdruck kollektiven Spieltriebs und seine für Internetverhältnisse außergewöhnliche Langlebigkeit. Vielleicht kann man es auch so betrachten:

Mit dem Internetorakel hat das damals noch ganz junge Netz eine Möglichkeit gefunden, sich selbst und seine Umwelt zu fragen, was es eigentlich ist – so wie ein Kleinkind, das zum ersten Mal Bewusstsein erlangt. Und so wie das Kleinkind seine Finger benutzt, um die Antwort auf diese Frage herauszufinden, hat das Internet dazu seine User*innen verwendet.

Ist es schon Zeit, diesen Blogpost zu beenden? Fragen wir das Orakel:

The Usenet Oracle has pondered your question deeply. Your question was:

Excuse me, but what time is it?

And in response, thus spake the Oracle:

It is the best of times, the worst of times. It is a time to be born, a
time to die, a time to rejoice, a time to mourn, a time to sow, a time
to reap, a time to read news, a time to post, a time to enact
legislation calling for the building of seven new stadiums in Washington
DC, a time to repeal all laws concerning tofu, a time to go fishing in
the desert, a time to go mountain-climbing at the bottom of the ocean, a
time to act like a chicken in front of your boss, a time to act like a
boss in front of your chicken. It's *NOW*.


Beitragsbild: Jason Blackeye


Schlussbemerkung: Bei der Recherche für diesen Blogpost stellte sich heraus, dass Steve Kinzler – der „Hohepriester“ des Internetorakels – seit Jahrzehnten als Informatiker in der Health IT an verschiedenen US-amerikanischen Unversitäten arbeitet. Vielleicht erscheint hier irgendwann einmal ein Interview mit ihm – ich bleibe dran.