Ingestibles: Magen an Smartphone, bitte kommen!

Und *das* soll ich schlucken?

Die Wearables betreten Neuland: Nicht auf der Haut, sondern auf der Magen- und Darmschleimhaut trägt man die sogenannten Ingestibles, von denen zur Zeit zwei vor der Markteinführung stehen:

Zur Messung der Körpertemperatur von Athleten hat die Firma BodyCap die Pille „e-Celsius Performanceentwickelt. Der Chip in der Pille misst alle 30 Sekunden die Körpertemperatur des Athleten und übermittelt sie drahtlos (in einem Radius von bis zu 3 Metern) an den sogenannten e-Viewer. Die Pille wurden beispielsweise an Fußballspielern der französischen 1. Liga getestet.

Nach Angaben der Firma bleibt die Pille „für ein bis zwei Tage, abhängig von der Transit-Zeit“ im Magen-Darm-Trakt. Wenn der Athlet nach dem Spiel also seine Körpertemperatur wieder für sich behalten möchte, muss er die Pille dann mit einer großzügigen Portion Leinsamen einnehmen? Laut Webseite der Firma nicht – die Daten würden außerhalb der 3-Meter-Reichweite des Monitors für 16 Stunden gespeichert, und die Energieversorgung reiche für 24 Stunden (immer noch wesentlich länger als das durchschnittliche Fußballspiel).

BodyCap schlägt auch vor, die Pille bei klinischen Studien und der Überwachung von Leuten in Hochrisiko-Berufen (beispielsweise Feuerwehrleuten) einzusetzen – und zur Überwachung des Schlafzyklus. Hierzu liegen aber noch keine Daten vor. Laut Webseite sollte die Pille zu diesen Zwecken ab 2016 vertrieben werden, was aber anscheinend noch nicht der Fall war.

Explizit zu medizinischen Zwecken entwickelt wurde dagegen der Sensor von Proteus Digital Health, der in eine Tablette mit Wirkstoff eingebettet wird. Wenn die Tablette den Magen des Patienten erreicht, zersetzt sie sich – dabei reagiert die Magensäure mit dünnen Schichten aus Kupfer, Gold und Magnesium, und es entsteht eine Art winzige Batterie, die den ebenfalls enthalteten Mikrochip mit Energie versorgt. Dieser funkt dann so lange, wie Energie vorhanden ist, Signale an einen weiteren Chip in einem Pflaster, der in der Nähe des Bauchnabels des Patienten angebracht ist (dieses Ingestible kommt also quasi mit seinem eigenen Wearable). Dieser funkt die Daten (gemeinsam mit anderen Daten, die er messen kann, bespielsweise Pulsfrequenz) an eine Smartphone-App.

Der Zweck des Ganzen? Auf diese Weise kann festgestellt werden, ob ein Patient sein Medikament tatsächlich einnimmt. Damit soll eines der größten Probleme in klinischen Studien und in der praktischen Medizin gelöst werden: Einem Patienten wurde ein Medikament verschrieben, aber seine Krankheit bessert sich nicht. Wirkt das Medikament nicht – oder hat er es gar nicht (regelmäßig) eingenommen? Die Mitarbeit des Patienten bei der Therapie wird auch als Adhärenz bezeichnet.

Besonders anfällig für eine geringe Adhärenz sind Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen. Daher ist der erste Anwendungsfall für Proteus die Messung der Adhärenz von Patienten, die das Medikament Abilify gegen Schizophrenie und bipolare Störung einnehmen. In dieser Kombination – Abilify mit eingebettetem Proteus-Sensor – ist das System der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) zur Prüfung übergeben worden.

Möchte man diese Technologie nun haben oder nicht?

Für den Einsatz von Proteus & Co. spricht zum einen, dass sich die Versorgung von Patienten verbessert, die Probleme damit haben, regelmäßig ihre Medikamente einzunehmen. Zum anderen lässt sich im gesamten Gesundheitssystem ein Haufen Geld sparen, wenn keine Medikamente mehr verschrieben werden, die nicht genommen, sondern irgendwann unverbraucht und abgelaufen entsorgt werden – wenn beispielsweise die Familie endlich mal Opas Spiegelschränkchen aufräumt.

Und was spricht dagegen? Ein Lebensbereich weniger, in dem man sich unbeobachtet fühlen kann. Hinzu kommt, dass Patienten vielleicht für ihre mangelnde Therapietreue bestraft werden, indem beispielsweise bestimmte Therapien nicht mehr angeboten werden oder Krankenkassenbeiträge steigen. Und so schön Selbstverantwortung auch ist: die Grenze zwischen jemandem, der seine Medikamente nicht vorschriftsmäßig einnehmen will und jemandem, der es nicht kann, ist nicht sehr scharf (nicht nur bei dementen alten Leuten).

Es kommt also – wie so oft – auf den gewissenhaften Einsatz an.

Übrigens waren BodyCap und Proteus nicht die Erfinder der Ingestibles: schon seit 2001 gehört die Kapselendoskopie zum Arsenal der Gastroenterologen. Eine kleine Kamera wird dabei vom Patienten geschluckt und funkt während ihres Wegs durch den Magen-Darm-Trakt ihre Bilder nach Hause. Auf diese Art war es erstmals möglich, unkompliziert die Schleimhaut des schwer zugänglichen Dünndarms zu filmen.

„Dünndarm“ von Dr.HH.Krause – eigenes Werk. CC BY-SA 3.0 via Commons.
„Dünndarm“ von Dr.HH.Krause – eigenes Werk. CC BY-SA 3.0 via Commons.

(Dieser Beitrag erschien erstmals auf der alten Version dieses Blogs, turingfish.net, und ist im März 2017 noch mal auf den aktuellsten Stand gebracht worden.)

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