Weihnachten 2068 – mit Kit und Dr. Alpha Novak

Weihnachten: Diese soeben überstandenen eigentümlichen Feiertage, zu denen man sich auf der Erde tote Bäume ins Wohnzimmer stellt und Cholesterin in verschiedenen Darreichungsformen schluckt…

… gibt es auch im Jahr 2068 noch.

Willkommen zu einer weiteren Folge des

Science-Fiction-Januar auf Serapion

(den wir schon im Dezember beginnen lassen).

Begleiten Sie Dr. Alpha Novak, Ärztin für invasive Kybernetik, und ihren treuen Assistenten Kit, in die Zukunft: Ins Jahr 2068 auf die Raumstation Eris TKS, wo die beiden für das gesundheitliche Wohl der Arbeiter im Meteoritenbergbau verantwortlich sind. Der Bonobo Kit trägt ein Hirnimplantat und kommuniziert mit Hilfe seines Talkers – eines kleinen Geräts, das Symbole in gesprochene Sprache umwandelt. Mehr dazu lesen Sie im Roman Vektor von Jo Koren.

Aber jetzt lassen wir Kit zu Wort kommen:


Weihnachten auf Eris TKS

Am Morgen des 24. Dezember 2068 wurde ich in meinem Quartier von Schneeflocken geweckt. Ich liebe Schnee! Eines Tages will ich mal durch echten Schnee laufen, auf der Straße, in echten Scheestiefeln. Alpha sagt, echter Schnee sieht auf der Straße nur für zehn Minuten gut aus, dann wird er zu grauem Schneematsch, und man kriegt am Straßenrand kein freies autonomes Taxi mehr, weil die alle nur noch im Schritt-Tempo zu ihren Zielen kriechen. Alpha kann einen manchmal echt runterziehen. Ich werde mir jedenfalls Schneestiefel kaufen, wenn wir eines Tages wieder auf der Erde landen.

Jo Koren: Weihnachten mit Dr. Alpha Novak und Kit (Science Fiction)Ich wurde also von Schneeflocken geweckt, weil ich das auf dem Display an der Wand meines Quartiers am Abend zuvor so programmiert hatte. Dazu spielte die Soundanlage das Geräusch von knirschenden Stiefeln im Tiefschnee. Ich freute mich, dann kletterte ich aus dem Bett und freute mich noch ein bisschen mehr.

Während ich auf dem Minireplikator neben der Eingangstür meines Quartiers Latte macchiato mit Karamelsirup bestellte (wenig Kaffee, wenig Milch, viel Sirup), versuchte ich mich zu erinnern, was heute anstand. Sicher würde Alpha Sprechstunde machen. Wenn die Ambulanz länger als einen Tag geschlossen ist, langweilt sie sich und wird unleidlich und fängt Streit mit Dr. Persson an. Und der wird von seiner Chefärztin schon genug herumgeschubst, der arme Kerl, da muss er nicht noch eine streitlustige Alpha auf der Klinikschwelle stehen haben.

Sprechstunde also. Ich schlürfte meinen Karamelltrunk und überlegte, ob ich die Sachen von gestern noch einmal anziehen sollte. Alpha sagt, die Patienten finden es besser, wenn ich bei der Arbeit etwas anhabe. Es hat etwas gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte, aber Kleidung hat auch ihre Vorteile. Fell hat schließlich keine Taschen. Außerdem wird es in der Sprechstunde auch mal dreckig, vor allem, wenn wir operieren. Geronnenes Blut aus dem Fell herauszushampoonieren, das dauert. Da schmeiße ich lieber einen Kittel in die Stationswäsche.

Ich entschied mich für einen frischen Kittel, so weiß, wie die Schneeflocken auf dem Display. Mit der rechten Hand schlüpfte ich in das SurFone, das auf meinem Nachttisch lag, und das sich eng um mein Handgelenk schmiegte. Mit der linken griff ich nach meinem Talker.

Nur war da kein Talker.

Ich schaute mich im Quartier um. Auf dem Bett, kein Talker. Unter dem Bett, kein Talker. Ich steckte den Kopf in die Nasszelle. Vor dem Spiegel, kein Talker. In der Dusche, kein Talker.

Das würde eine schwierige Sprechstunde werden.


Alpha war schon da, als ich in die Praxis kam. Sie stand an der Anmeldung und spähte betont unauffällig in Richtung Wartezimmer. Sie überlegte wahrscheinlich, ob sie es noch schaffen würde, eine Tasse Kaffee zu trinken, bevor der erste Patient darauf bestand, mit hineingenommen zu werden. Ich deutete auf mein linkes Handgelenk.

„Was?“

Ich deutete erneut, dann auf meinen Mund, dann hob ich entschuldigend die Schultern.

„Wo ist dein Talker?“

Ich hob erneut die Schultern.

Alpha schaute nicht begeistert. „Hast Du überall im Quartier geguckt?“

Ich nickte.

„Kitteltasche?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Hm. Wir müssen jetzt trotzdem anfangen.“ Sie tätschelte mir den Kopf. „Du schaffst das schon.“

Ich fühlte mich nicht ganz ernst genommen.

Ein Patient in schmutzigen Arbeitsklamotten kam durch die Eingangstür der Ambulanz und gesellte sich zu den anderen ins Wartezimmer.

„Halt sie noch ein paar Minuten auf, damit ich meinen Kaffee trinken kann.“

Ich nickte verzagt. Das Grummeln aus dem Wartezimmer wurde lauter.


Kaum hatte ich mich auf meinen Sessel hinter der Theke der Anmeldung gesetzt, da bauten sich zwei Meter ungewaschener Mensch vor mir auf.

„Ich bin jetzt dran“, sagten die zwei Meter.

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, ein bedauerndes Gesicht zu machen.

„Ich warte schon seit halb acht.“

Ich nickte. Da hatten die zwei Meter wohl recht.

„Ich habe Schmerzen!“

Wenn ich jetzt meinen Talker gehabt hätte, hätte ich ihn darauf hingewiesen, dass mir das durchaus leid tue, dass ich ihn aber auch in normaler Zimmerlautstärke verstanden hätte, und dass Frau Doktor trotzdem noch nicht frei sei.

Stattdessen nickte ich.

„Ich gehe jetzt rein!“

Ich schüttelte den Kopf.

Die zwei Meter schnaubten erbost.

Ich rutschte von meinem Sessel, kam um die Theke herum, stellte mich zwischen ihn und die Sprechzimmertür und schüttelte nachdrücklich den Kopf.

Der Patient schüttelte ebenfalls den Kopf. Ich lächelte erleichtert. Offenbar war er jetzt meiner Meinung.

Doch dann bückte er sich, packte mich am Rumpf, warf mich über seine Schulter und marschierte geradewegs ins Sprechzimmer.

Dort stellte er mich wieder auf die Füße und schaute Alpha an, die erschrocken ihre Kaffeetasse absetzte.

„Ich bin jetzt dran.“


Das fing ja gut an. Ich nahm wieder meinen Platz in der Anmeldung ein und harrte der Dinge, die da kommen mochten.

Eine halbe Stunde später – ich sortierte gerade fröhlich Speicherkarten – schaute ich zufällig auf und sah ein halbes Gesicht, ziemlich behaartes Gesicht über die Theke ragen. Ich reckte den Kopf, schaute über die Theke und identifizierte den Besucher als Gorilla. Ich seufzte. Schon unsere Vorfahren wussten wenig miteinander anzufangen, und jetzt hatten die Menschen ihre Finger im Spiel und wir waren dazu gezwungen, uns ständig über den Weg zu laufen.

Jo Koren: Weihnachten mit Dr. Alpha Novak und Kit (Science Fiction)Hirnimplantat hin oder her, ich fand jedenfalls immer noch, dass Gorillas einfach nicht die hellsten Kerzen im Leuchter waren.

Ich wartete kurz, ob er wohl selbst auf die Idee kommen würde, sich auf seine Hinterbeine zu stellen, um über die Theke zu schauen.

Schien nicht so.

Ich machte eine auffordernde Geste mit der Hand. Der Groschen schien zu fallen. Zwei große Hände umfassten den Rand der Theke, und jetzt wurden Gesicht und Oberkörper sichtbar.

Ich stutzte für einen Moment. Ein Mädchen, aha! Und – für die Verhältnisse ihrer Spezies – gar kein so hässliches. Ich entschuldigte mich beim Universum für meine abfälligen Gedanken und legte unterhalb der Theke unauffällig noch etwas Parfüm nach.

Dann lächelte ich sie freundlich an. Eine neue Bekanntschaft!

Ihre Handgelenke waren frei – sie trug keinen Talker. Zu schade. Stattdessen schob sie einen Terminchip über die Theke. Ich las ihn ein und wollte sie schon in Richtung Wartezimmer weisen, da besann ich mich eines Besseren. Wie dumm, dass ich sie nicht fragen konnte, ob sie auf der Durchreise war und wie lang sie bleiben würde! Stattdessen zeigte auf sie und dann auf mich, verhakte meine beiden Hände ineinander und lächelte erneut.

Sie blieb ernst.

Offenbar hatte sie mich nicht verstanden. Wie gesagt, nicht die hellsten Kerzen.

Ich hob einen Finger und bedeutete ihr zu warten, dann kam ich um die Theke herum und ging auf sie zu. Ich hob die rechte Hand, um ihr über den Kopf zu streichen, und spitzte die Lippen erwartungsvoll. Dann näherte ich mich ihrem Gesicht. So müsste sie doch verstehen, dass ich gern Freundschaft schließen wollte…!

Der Schlag traf mich unvermittelt und fegte mich von den Füßen. Als ich meine Orientierung wiedergefunden hatte, sah ich nur noch ihren Rücken, wie er in der Tür des Wartezimmers verschwand.

Ich rappelte mich auf. Gorillas eben.


„Dr. Novak hat mich einbestellt.“

Ich nickte und schaute den kleinen, pummeligen Mann erwartungsvoll an. Ich hoffte, er würde mir jetzt noch den Grund seines Besuchs verraten.

Er schaute mich ebenso erwartungsvoll an.

Hm.

Ich musterte ihn. Der rechte Ärmel seiner grauen Uniform war säuberlich hochgekrempelt. Der ganze Rücken seines Unterarms war von einem grün fluoreszierenden Verband bedeckt. Darunter war der Arm deutlich dicker als der andere. Es musste wohl um einen Verbandswechsel gehen.

„Was wird denn gemacht?“, fragte er.

Ich deutete auf seinen Arm.

„Ja, tut weh. Was macht Dr. Novak denn heute?“, wiederholte er.

Ich deutete erneut auf den Arm.

Er legte ihn auf die Theke.

Ich spitzte die Finger und zog pantomimisch den grünen Verband ab, dann tätschelte ich die Luft über dem Verband.

Sein Gesicht erhellte sich und er knibbelte eine Ecke des Verbands ab.

Ich schüttelte heftig den Kopf. Doch nicht hier!

Zu spät. Mit einem Ruck zog er den Verband ab. Klare Flüssigkeit, an manchen Stellen rötlich tingiert, sickerte aus dem Verband und der Armwunde auf die Theke und tropfte von da auf den Boden der Anmeldung. Ich sprang von meinem Sessel und eilte um die Theke herum.

Da öffnete sich die Tür des Sprechzimmers und Alpha kam heraus.

„Kit!“

Ich blickte hoch und versuchte, wie jemand zu schauen, der unschuldig verfolgt wird. Ich war mir nicht sicher, ob es funktionierte.

Alpha schüttelte den Kopf, verschwand im Sprechzimmer und kam mit einer Papierrolle wieder. Sie reichte ein paar Papiertücher dem Patienten und verteilte ein paar weitere großzügig auf dem Boden und auf der Theke. Dann winkte sie den Patienten in Richtung Sprechzimmer.

Zu mir sagte sie: „Geh doch mal zu Tian und hol uns ein paar Blini. Ich glaube, es ist Zeit für eine Pause.“

Das sah ich ganz genau so. Ich schaute die Papiertücher auf dem Boden an.

„Ich kümmere mich gleich darum. Mit saurer Sahne bitte!“

Ich nickte und war froh, die Ambulanz hinter mir zu lassen.


Als ich wieder in die Anmeldung kam, waren Boden und Theke sauber und das Wartezimmer leer. Ich ließ mich wieder auf meinem Sessel nieder und platzierte die Tüte auf der Theke. Alpha kam aus dem Sprechzimmer, griff sich einen Pfannkuchen aus der Tüte und biss hinein.

„Super Blini“, sagte sie mit vollem Mund.

Ich nickte.

Sie steckte ihre Hand in die Kitteltasche, zog ein kleines Bündel heraus, das mit einer roten Schleife umwickelt war, und legte es auf die Theke. Ich schaute näher hin. Mein Talker!

Ich schaute sie an. Ich dachte, „Verwirre nie einen Kit im Scherz, denn er spürt wie Du den Schmerz!“ – hoffte aber, dass mein Gesichtsausdruck die Nachricht genau so gut herüberbrachte.

„Ich wollte einfach mal einen Tag lang meine Ruhe haben“, sagte Alpha.

Empört runzelte ich die Stirn.

„Da hab ich die Gelegenheit genutzt, ihm ein Update zu verpassen. Zieh ihn mal an!“

Ich zog die rote Schleife auf und schlüpfte mit dem Handgelenk in den Talker. Das dünne Display leuchtete auf und zeigte mir den üblichen Startbildschirm mit meinen am häufigsten benutzten Themenbereichen. Nur rechts oben prangte nun etwas Neues, eine kleine Schneeflocke.

Ich drückte auf die Flocke.

Stiefel knirschten durch den Schnee.


Bald geht es im Blog weiter mit dem Science-Fiction-Januar – schauen Sie wieder vorbei! 🙂