Datenbrillen im Rettungs- und Sanitätsdienst bei Großschadenslagen

Ein Gastbeitrag von Steffen Kastner und Sebastian Kreuzer im Rahmen unseres Kooperationsprojekts mit der FHWS.

Gerade bei Einsätzen mit einer hohen zu erwartenden Anzahl an Patienten ist der Informationsfluss von hohem Wert, da nur so entsprechende Entscheidungen in der Einsatzleitung, in der Leitstelle und in den Krankenhäusern getroffen werden können. Ziel dieses Artikels ist, eine mögliche Verwendung von Datenbrillen im Bereich des Rettungs- bzw. Sanitätsdienstes bei solchen Einsatzlagen beispielhaft zu illustrieren.

Der MANV: Massenanfall von Verletzten

Bei Unfällen oder Katastrophen spricht man ab einer gewissen Anzahl an Patienten von sogenannten „MANV – Massenanfall von Verletzten“. Für diese Einsatzlagen gibt es spezielle Richtlinien, abhängig vom Bundesland [2,3]. Bei Eintreten einer solchen Schadenslage werden andere Einsatzstrukturen eingesetzt als im normalen Rettungsdienstalltag. In solchen Fällen herrscht eine spezielle Verteilung der Aufgaben, bei der den Rettungsmitteln andere Rollen zukommen. Aufgrund der Unterschiede zwischen den Vorgehensweisen, wenn ein Notarzt verfügbar und vor Ort ist oder nicht, sollen die Aufgaben ohne verfügbaren Notarzt betrachtet werden.

Der mit dem ersten Rettungswagen eintreffende Notfallsanitäter (NotSan) gibt eine erste Lagemeldung mit „Lage auf Sicht“ an die integrierte Leitstelle (ILS) weiter. Die Leitstelle erhält somit einen ersten groben Überblick über die Lage. Der NotSan übermittelt die auf den ersten Blick erkannte Anzahl an Patienten sowie eine Beschreibung der Lage, wie beispielsweise mögliche Gefahren oder Ähnliches. Anschließend übernimmt der NotSan die Ordnung des Raumes für nachfolgend eintreffende Rettungsmittel. Währenddessen hat der Fahrer des Rettungswagens die Aufgabe, eine medizinische Erstversorgung der Patienten zu übernehmen.

Nichtärztliche Vorsichtung: von leicht- bis schwerstverletzt

Mit Eintreffen des zweiten Rettungswagens und mehr als fünf Patienten, beginnt der NotSan auf diesem eine „nichtärztliche Vorsichtung“ der Patienten. Ziel dieser – vor allem zeitkritischen – Vorsichtung ist, möglichst schnell einen Überblick über die Lage zu erhalten. Die ILS muss vor allem wissen, ob die Rettungsmittel ausreichend sind oder ob weitere Einsatzmittel benötigt werden, und somit Kräfte nachalarmiert werden müssen. Die nichtärztliche Vorsichtung ergibt eine Einstufung des Patienten zwischen „Sichtungskategorie I rot“ (schwerstverletzt) bis „Sichtungskategorie III grün“ (leichtverletzt).

Das 2014 gestartete Projekt „AUDIME“ [4,5,6], gefördert vom Bildungsamt für Bildung und Forschung, befasst sich mit den Möglichkeiten der Nutzung von Informationssystemen in einer MANV-Lage. Das Projekt untersuchte die Vorsichtung mit Unterstützung durch einen Telenotarzt, sowie den Einsatz von Datenbrillen für die Überwachung von Vitalparametern der Patienten. Im Fall des Telenotarztes handelt es sich um einen Arzt, der über eine Datenfernverbindung und Kommunikationstechnik die Einsatzkraft unterstützt.

Gerade bei einer Unterstützung durch einen Telenotarzt war zu beobachten, dass der Einsatz einer Datenbrille für die Vorsichtung nicht zielführend ist, da hier ein geübter Rettungssanitäter ähnlich gute Ergebnisse der Sichtungskategorien schlussfolgert. Jedoch benötigt der Telenotarzt eine höhere Zeit für die Sichtung, da dieser die benötigten Vitalparameter nicht selbst erheben kann. Die Unterstützung der behandelnden Einsatzkräfte durch einen Telenotarzt stellte sich dahingegen als vorteilhaft heraus. Bei einer entsprechenden Einsatzlage ist die sonst fehlende ärztliche Unterstützung durch einen Telenotarzt zügig verfügbar.

Vorsichtung mit Datenbrille schafft Übersicht

Eine nicht in dem Projekt untersuchte Möglichkeit für den Einsatz von Datenbrillen ist, die Unterstützung des Einsatzpersonals bei der Sichtung durch die Einblendung von Informationen im Sichtfeld. Erfahrungsgemäß ist es schwierig, in den ersten Minuten des Einsatzes einen Überblick über die Lage zu erhalten. Hierzu könnte der Einsatzkraft für jeden Patienten mithilfe von Augmented Reality eine „schwebende“ Informationsblase (siehe Abb. 1) am Standort des Patienten eingeblendet werden.

Beispielhafte Sicht durch die Datenbrille mit Informationen über die Sichtungskategorie, Puls und Patientennummer
Abbildung 1: Beispielhafte Sicht durch die Datenbrille mit Informationen über die Sichtungskategorie, Puls und Patientennummer. Zusätzlich noch Informationen über Kameraden, die bei landkreisübergreifenden Einsätzen neu hinzukommen.

Um diese Informationen aufzunehmen, bietet es sich an, das gesamte System mit Sprachkommandos steuerbar zu gestalten. Die Einsatzkraft kann dann, nach einem Muster ähnlich „Patient Nr. 28, Sichtungskategorie III grün“, einen Patienten vorsichten. Gerade durch die farbige Markierung der Sichtungskategorien ist es somit möglich, schnell zu sehen, wo sich ein Patient mit welchem Schweregrad an Verletzungen befindet.

Ein weiterer Vorteil hieraus ist, dass die Einsatzleitung, bestehend aus leitendem Notarzt (LNA) für medizinische Entscheidungen und organisatorischem Leiter (OrgL) für logistische Entscheidungen, jederzeit über die Anzahl an Patienten im Bilde ist. Für die Einsatzleitung sind dabei konkrete Diagnosen eines Patienten nebensächlich, während die Anzahl der Patienten pro Kategorie und ggf. spezielle Verletzungsmuster, wie „Brandopfer“ o. Ä., aus logistischen Gründen wichtig sind. Somit kann zügig auf die Frage „Sind die Einsatzmittel ausreichend?“ geantwortet werden. Umliegende Krankenhäuser können vorab über die zu erwartenden Patienten informiert werden. Der Funk wird aufgrund der automatisierten Informationsübertragung entlastet, während mehr wichtige Informationen bei der Einsatzleitung und der sie unterstützenden „Unterstützungsgruppe Sanitätsdienst Einsatzleitung“ (UGSanEL, siehe Abb. 2) gebündelt ankommen.

UGSanEL mit technischer Ausstattung zur Unterstützung der Einsatzleitung
Abbildung 2: UGSanEL mit technischer Ausstattung zur Unterstützung der Einsatzleitung.

Datenbrille und Telenotarzt im Pilotprojekt

Derzeitige Pilotprojekte wie in Hessen [8], bei denen Fahrzeuge versuchsweise mit Hardware für einen Telenotarzt ausgerüstet werden, zeigen, dass die Einsatzzwecke gerade im Bereich des Rettungs- und Sanitätsdienstes vielfältig sind. Hieraus resultierend sollten Studien auf den Bereich des Katastrophenschutzes, ähnlich dem Projekt AUDIME, so erweitert werden, dass auch der einsatztaktische Wert für die Führung untersucht werden kann. Dabei sind für den Katastrophenschutz relevante Aspekte wie Sicherheit, Verfügbarkeit und Robustheit zusätzlich zu berücksichtigen.

Literatur:

[1] https://www.bayerische-staatszeitung.de/staatszeitung/kommunales/detailansicht-kommunales/artikel/telemedizin-haelt-einzug-im-rettungswagen.html#topPosition

[2] http://www.kfv-ab.de/images/KFV/News-Presse/2016/MANV-Richtlinie_2016_-_Richtlinie.pdf

[3] http://www.kfv-ab.de/images/KFV/News-Presse/2016/MANV-Richtlinie_2016_-_Anlagen.pdf

[4] https://www.vditz.de/fileadmin/media/projekte/Projektumriss_Audime.pdf

[5] https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-319-42620-4.pdf (Ab S.637)

[6] http://audime-projekt.de/fileadmin/bilder/abschlussberichte/Abschlussbericht__AUDIME_KoMViTel.pdf

[7] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Pilotprojekt-Mit-Telenotaerzten-gegen-den-Notarztmangel-4465313.html

Bildquellen: BRK KV Kitzingen (Wallström, Felix; Erhard, Roland)


Über die Autoren: Steffen Kastner ist Student an der FHWS im Masterstudiengang Informationssysteme, zuvor Bachelor in Informatik mit Vertiefung Medieninformatik. In der Freizeit passionierter Entwickler für VR- und AR-Anwendungen.

Sebastian Kreuzer ist ebenfalls Student an der FHWS im Masterstudiengang Informationssysteme, zuvor Bachelor in Informatik mit Vertiefung Smart Systems. In der Freizeit Sanitäter mit Fachdienstausbildung beim Bayerischen Roten Kreuz sowie Mitglied in der UG SanEL und Rettungssanitäter in Ausbildung.