Was im 17. Jahrhundert als unhandliches Rohr anfing, ist heute elegant, miniaturisiert und fast schon unsichtbar: das Hörgerät.
Die neueste Entwicklung kommt nicht von einem Medizintechnik-Giganten wie Siemens, sondern von einem Mittelständler im Münsterland. Das Unternehmen auric aus Rheine wurde 1995 vom Hörgeräteakustikermeister Hans-Dieter Borowsky und Dr. Theo Wesendahl, zuvor niedergelassen als HNO-Arzt gegründet und ist einer der Entwicklungspartner der neuartigen Hörkontaktlinse.
Ebenfalls mit im Boot: Das Startup Vibrosonic unter Leitung von Dr. Dominik Kaltenbacher, der uns hier zur Hörkontaktlinse Frage und Antwort steht.
Wie kam es zu der Projektidee der Hörkontaktlinse?
Die Idee entstand in einer Forschungskooperation zwischen dem Fraunhofer-Institut, der Uniklinik Tübingen, auric und weiterer Partner. Das eigentliche Thema dieser Forschungszusammenarbeit war die Untersuchung eines implantierbaren Hörgeräts und resultierte in der Entwicklung eines neuartigen Hörgerätelautsprechers. Es stellte sich zudem heraus, dass der Lautsprecher nicht nur für implantierbare Hörlösungen geeignet ist, sondern auch als Nicht-Implantat direkt auf dem Trommelfell verwendet werden kann. Die Idee dazu kam von Prof. Hans-Peter Zenner, dem damaligen klinischen Direktor der Universitäts-HNO-Klinik Tübingen. Mit dem neuartigen Hörgerätelautsprecher auf dem Trommelfell war die Idee zur Hörkontaktlinse geboren.
Winziger Lautsprecher
Weshalb war ein derartiges Hörgerät bisher technisch nicht umsetzbar? Welche technischen Fortschritte waren dazu notwendig?
Der technische Durchbruch gelang durch die Verwendung der Methoden und Prozesse der Mikrosystemtechnik. Erst mit dieser Technologie konnte ein Hörgerätelautsprecher entwickelt werden, der klein, leicht und gleichzeitig leistungsfähig genug ist, um auf dem Trommelfell platziert werden zu können.
Welche Vorteile bietet die Hörkontaktlinse gegenüber konventionellen Hörgeräten?
Die Hörkontaktlinse ist als erstes Hörgerät in der Lage, signifikant bessere Klangqualität mit äußerlicher Unsichtbarkeit zu kombinieren. Zwar gibt es bereits heute Hörlösungen, die sehr klein im Gehörgang getragen werden können, jedoch bieten diese eine nur eingeschränkte Klangtreue.
Durch die direkte Stimulation des Trommelfells – dort, wo das natürliche Hören des Menschen stattfindet – erreicht die Hörkontaktlinse optimale Verstärkungseigenschaften. Dies äußert sich vor allem in einer großen Verstärkungsbandbreite. Das heißt, es können sowohl sehr tiefe als auch sehr hohe Töne optimal verstärkt werden.
Durch die Positionierung der Hörkontaktlinse direkt auf dem Trommelfell können darüber hinaus alle weiteren Komponenten des Hörsystems so weit miniaturisiert werden, dass sie unsichtbar im Gehörgang verschwinden.
Besseres Sprachverständnis
Warum ist das Sprachverständnis besser als mit anderen Hörgeräten?
Der entscheidende Vorteil der Hörkontaktlinse im Vergleich zu anderen Hörgeräten ist die erwähnte größere Verstärkungsbandbreite. Dadurch gelingt es Tonhöhen bis zu 12 kHz zu verstärken, wohingegen bei klassischen Lösungen zwischen 6 und 8 kHz keine Verstärkung mehr erzielt werden kann. Die Frequenzen zwischen 8 und 12 kHz sind aber wichtig, denn in diesen Frequenzbereichen sind die charakteristischen Merkmale von menschlichen Stimmen kodiert. Kann man den hörbeeinträchtigten Personen diese Informationen zurückgeben, gelingt es ihnen insbesondere in größeren Gruppen sich besser auf den jeweiligen Gesprächspartner zu konzentrieren, was letztlich zu weniger Anstrengung und besserem Sprachverstehen führt.
Gibt es Patientengruppen, die von der Hörkontaktlinse im Vergleich zu bisherigen Hörgeräten nicht profitieren?
Patienten mit Gehörgangsanomalien sowie Personen mit chronischer Gehörgangs- oder Mittelohrentzündung sind von der Versorgung ausgeschlossen.
Resthörvermögen notwendig
Kann die Hörkontaktlinse auch als Alternative zum Cochlea-Implantat fungieren? Warum nicht?
Cochlea-Implantate können für die Versorgung von tauben Patienten eingesetzt werden; sie stimulieren das Gehör nicht akustisch mit verstärkten Schallschwingungen, sondern vielmehr elektrisch, in dem eine ins Innenohr implantierte Elektrode Strompulse an den Hörnerv abgibt, was im Gehirn als Höreindruck interpretiert wird.
Die Hörkontaktlinse beruht auf dem akustischen Prinzip: Sie funktioniert nur, wenn beim Patienten zumindest minimales Resthörvermögen vorhanden ist.
Wie ist der aktuelle Stand des Projekts Hörkontaktlinse?
Die klinische Studie zur Zulassung des Systems wird in Kürze starten. Im Moment läuft eine Pilotstudie mit bis zu 5 normalhörenden Probanden. Hier werden Höreindruck und Schallleistung vermessen – dies kann auch bei normalhörenden Menschen durchgeführt werden, da es sich um objektive Messdaten handelt, also Lautheit, Bandbreite, Anregungsfrequenzen.
Linse bleibt auf dem Trommelfell
Und wie wird der tägliche Umgang des Nutzers mit der Linse aussehen?
Da die Linse direkt auf dem Trommelfell sitzt, wird der Arzt sie einsetzen und wieder herausnehmen, wenn sie auf dem Markt ist. Die Batterie des Systems verbleibt ebenfalls im Gehörgang und kann drahtlos aufgeladen werden. Dies erfolgt mit einem Kopfhörer, über den der Nutzer auch Musik hören oder telefonieren kann.
Der Lautsprecher selbst ist komplett in Silikon eingebettet. Aus umfassenden wissenschaftlichen Untersuchungen und praktischer klinischer Anwendung ist bekannt, dass die Positionierung von Silikonelementen auf dem Trommelfell auch über einen langen Zeitraum problemlos möglich ist. Zum einen gibt es Erfahrungen mit Silikon-Patches, die bei Trommelfellrissen wie eine Art Pflaster auf das Trommelfell aufgebracht wurden und dort über Monate oder sogar Jahre verbleiben. Zum anderen wurden bereits früher alternative Ansätze zur Stimulation des Trommelfells und damit einhergehend die Verträglichkeit von Silikonelementen auf dem Trommelfell untersucht. Wir denken also, dass unsere Nutzer in Zukunft mit der Hörkontaktlinse nicht allzu häufig ihren Arzt aufsuchen müssen.