Vielleicht bin ich nicht die Einzige, die sich mit dem Lesen von Reiseführern Farbe in den ewigen Corona-Winter 2020/2021 gebracht hat. Was hängen geblieben ist?
Neben verschiedenen Reise-Trivia (Illy-Kaffee kommt aus Triest und Shanghai hat eine Altstadt) folgendes:
Im Mittelalter hatten die Menschen in Europa keine Vorstellung davon, dass ihre Vorfahren anders gelebt haben könnten als sie selber. Das ist auch der Grund dafür, dass Bilder von biblischen Szenen aus dieser Zeit Leute in mittelalterlicher Kleidung zeigen. (Danke, Ian Mortimer von „The Time Traveller’s Guide to Medieval England„). Also etwa so, als ob die „Vikings“ auf Netflix in Band-T-Shirts rauben und brandschatzen würden – stilistisch passend, historisch leicht daneben.
Während der Regierungszeit von Queen Elizabeth I setzte sich dann doch die Einsicht durch, dass die Vergangenheit anders sein könnte als die Zukunft, jedenfalls in England. (Für andere Gegenden weiß ich es nicht, mangels Reiseführer.) Man überlegte sich sogar, wie wohl die eigenen Nachfahren einmal leben würden. Um diese Zeit enstand „Utopia“ von Thomas Morus, der wahrscheinlich erste Science-Fiction-Roman Europas.
Spulen wir ein paar Jahrhunderte nach vorn: Für uns ist es glasklar, dass die Welt früher anders aussah. Je nachdem, wem man zuhört, ist eigentlich dauernd irgendwo eine Revolution im Gange, und meistens ist sie technologischer Natur.
Und dass die Welt von morgen anders aussehen wird, ist eh eine Binsenweisheit. Allerdings haben die letzten paar Jahrzehnte gezeigt, dass wir blinde Flecken haben: Bei manchen Dingen stellen wir uns die zukünftige Entwicklung immer noch vor wie unsere Vorfahren im Mittelalter. Nämlich gar nicht.
Was heißt das?
Hier kommen erst mal die „Jetsons“. Ältere Millennials wie ich kennen sie vielleicht noch aus dem Samstagsvormittagsprogramm bei RTL:
Die Jetsons leben im Jahr 2062 – und zwar, wie ihre Macher Hanna und Barbera sich dieses in den 1960er Jahren vorgestellt haben. Das heißt: Ein Haushaltsroboter putzt das Haus und die Familie fliegt in einer Art faltbarer Untertasse durch die Stadt. Mutter und Ehefrau Jane ist aber immer noch für Küche und Kinder zuständig (und hat nicht mal eine Zweit-Untertasse, sondern fliegt beim Ehemann mit).
Aber die Serie ist nicht einfach technologisch fortschrittlich und gesellschaftlich rückständig. An manchen Stellen ist sie uns sozial immer noch voraus – Familienvater George arbeitet nur drei halbe Tage in der Woche – der Rest seiner Arbeit wird ja von intelligenten Maschinen erledigt. An anderen haben wir sie technologisch längst überholt – so arbeitet der „Essensdrucker“ der Familie immer noch mit Lochkarten.
Lustigerweise ist die Gesundheitsversorgung der Jetsons im Jahr 2062 ungefähr auf dem heutigen Stand – es gibt eine Videosprechstunde und Kapselendoskopie (die Kapsel schaut allerdings auch gleich mal in der Lunge, am Herzen und im Gehirn vorbei).
Hanna und Barbera lagen also ziemlich oft richtig. Blinde Flecken hatten sie allerdings bei der Rollenverteilung in Familie und Gesellschaft und an der Schnittstelle zwischen Mensch und Computer. Das aber auch nicht immer – während Jane Jetson ihren Computer mit Lochkarten füttert, versteht die intelligente Sonde in der Arztpraxis sogar menschliche Sprache.
Was nehmen wir heute für selbstverständlich?
- Dass es auch in ein paar Jahrzehnten noch Krankenhäuser geben wird?
- Dass Impfungen etwas sind, das man nur alle paar Jahre mal auffrischen muss (oder bis eine Pandemie „überwunden“ ist)?
- Die starren Grenzen zwischen verschiedenen Gesundheitsberufen?
- Und was noch?
Beitragsbild: Cody Hiscox