„Nein, meinen Medikamentenplan habe ich nicht dabei. Den hat mein Hausarzt. Der ist gerade im Urlaub. In Südtirol, glaube ich. Brigitte? Ist der Wegner nicht in Südtirol? Oder im Elsass. Da hat er auch mal von geredet. Aber ich nehme jedenfalls morgens immer die kleine weiße Pille und abends eine halbe von den großen. Aber wieso wollen Sie das überhaupt wissen? Da – gucken Sie doch selber in die Tüte!“
Eine Woche später bei der Oberarztvisite: „Ach, was ich noch fragen wollte, muss ich meine Wassertabletten gar nicht mehr nehmen? Ich krieg so schlecht Luft, seit ich hier bin…“
So oder ähnlich, jeden Tag in deutschen Krankenhäusern.
Unser Gastautor Manfred Kindler sagt: Mit einem handlichen Massenspektrometer wäre das nicht passiert! Und das mit KI aufgemotzte Smartphone macht dann auch gleich den Stationsarzt und die Oberärztin überflüssig.
Aber lesen Sie selbst im aktuellen Beitrag des Science-Fiction-Januar auf Serapion…
Schnarchen Sie? Bekommt Ihr Partner Angst, wenn Sie nachts mal längere Zeit nicht atmen und danach röchelnd nach Luft schnappen? Bevor Sie sich für eine aufwändige Untersuchung in einem Schlaflabor anmelden, sollten Sie vielleicht mal Ihr Smartphone nachts neben sich auf den Nachtisch legen. Laden Sie die kostenlose App Snoreclock und starten Sie das Programm. Am nächsten Morgen erwartet Sie eine komplette Tonaufnahme Ihrer Schnarchgeräusche mit einer grafischen Darstellung, die sekundengenau analysiert werden kann. Dort können Sie die Länge der Apnoe-Pausen selbst vermessen und die nachfolgenden Reaktionen betrachten.
Wenn Sie jetzt noch wissen wollen, wie sich die Atempausen auf Ihre Luftversorgung auswirken, sollten Sie sich ein drahtloses Pulsoximeter verschaffen und dies in der Nacht an einem Finger anklemmen. Mit der kostenfreien Software erhalten Sie am nächsten Tag einen ausführlichen Oximeterbericht inklusive der minutengenauen Aufzeichnung der Sauerstoffsättigungskurve und der Pulsfrequenz. Eine Statistik listet Ihnen die bedrohlichen Ereignisse der Nacht auf.
Nun wären Sie auch gerne darüber informiert, wie und wann sich Ihre Nacht in die einzelnen Schlafperioden aufteilt. Ein Fitbit-Armband zeichnet nachts ihre Bewegungen im Schlaf auf und ordnet diese zeitlich genau den Kategorien Leicht- und Tief-Schlaf, REM-Phase und Wachzeit zu. Sie können Ihr Schlafverhalten eingehend am Smartphone studieren.
Angst vor Vorhofflimmern? Das kabellose Kardio Mobile EKG legen Sie einfach für 30 Sekunden auf Ihre Finger oder Ihr Herz, um ein EKG aufzuzeichnen. Ihre Atmung klingt schon etwas verdächtig? Mit Ihrem drahtlosen Stethoskop zeichnen Sie Ihre Herzgeräusche auf. Liegt es möglicherweise am gestrigen Umtrunk? Ein briefmarkengroßes Gerät zeigt nach dem Hineinblasen auf dem Bildschirm Ihren Atemalkoholwert an. Aber vielleicht hat auch längst das medizinische Diagnosesystem Audi Fit Driver in Ihrem Auto Ihre Fahruntüchtigkeit festgestellt.
Sie sind mit der Interpretation der aufgezeichneten Daten überfordert? Rufen Sie einfach einen Internet-Doktor an und übermitteln Sie ihm Ihre Dateien. Er wird Ihnen vielleicht ein Medikament verschreiben, welches Sie bei einer Internet-Apotheke einlösen können. Per Smartphone schauen Sie sich vorsichtshalber auf dem Beipackzettel die Nebenwirkungen an und lesen anschließend die Therapie-Erfahrungen von anderen Patienten in der Jameda-Plattform nach. Oder sollte Ihr Bildschirmdoktor Ihnen etwa das Aufsuchen eines Spezialisten empfohlen haben? In den Ärzte- und Klinikportalen von Jameda finden Sie bequem eine Fülle von positiven oder negativen Rückmeldungen anderer Patienten.
Sie möchten noch etwas tiefer in Ihre medizinische Diagnostik eindringen? Mit entsprechendem Zubehör können Sie eine EEG-Elektrodenhaube, eine Ultraschall-Sonde für Brust- und Bauchraum, Gefäße oder Nerven oder ein Gerät zur Messung Ihrer Lungenfunktion an Ihr Smartphone anschließen. Notfalls wollen Sie mit Ihren Befunden einen Spezialisten in einem Tele-Konsil befragen? Möglicherweise hat er zur fachlichen Unterstützung sogar noch einen elektronischen Kollegen mit künstlicher Intelligenz im Hintergrund.
Sie haben noch Tabletten unbekannter Herkunft in Ihrem Arzneimittelschrank? Schließen Sie das handliche Massenspektrometer aus Israel an ihr Mobiltelefon und halten Sie es an die Pille. Nach einem Scan der Struktur und einem Abgleich mit einer Datenbank erhalten Sie den Namen des Medikaments. Dies wäre oft eine große Hilfe in der Notfallambulanz.
Diabetes, Migräne, Parkinson, Alzheimer, COPD … – für fast jedes Krankheitsbild findet sich mittlerweile eine entsprechende Health-App mit Zubehör, die sich per Mobiltelefon mit der Internet-Welt verbindet. Die Zeit der Tracking-Armbänder, vor kurzem noch als bessere Schrittzähler verspottet, hat sich gründlich verändert. Der moderne Patient kann wählen zwischen dem klassischen Arzt vor Ort, medizinischen Online-Diagnosen und intelligenten Messgeräten. Diese können oft kostenträchtige Medizingeräte in der Arztpraxis oder im Krankenhaus ersetzen, schließlich sind sie in Gestalt Ihres Handys mit einem mobilen Höchstleistungscomputer mit permanenten Internetanschluss gekoppelt. Das Smartphone als Killerapplikation, welches als zentrale Schnittstelle das Gesundheitswesen in Prävention, Diagnostik und Therapie entscheidend beeinflussen wird.
Die Motoren der Innovation sind diesmal nicht die etablierten Akteure im Medizintechnikmarkt, sondern Tausende von Start-Ups und Young Professionals, die ungeduldig mit großem Elan und oft skurrilen Ideen das Internet der Dinge mit Leben erfüllen und gemeinsam mit finanzkräftigen Investoren den lukrativen Gesundheitsmarkt entdeckt haben.
Den Preis für die meist kostenlosen zahlt der Nutzer indirekt mit seinen Daten. Er wird zum „gläsernen Patienten“ und liefert das Wissensfutter für die Big Data Analysen der KI-Systeme und Business-Modelle der GAFA-Datensammler (Google, Apple, Facebook, Amazon) und andere. Im Gegenzug wird auch der behandelnde Mediziner zum „gläsernen Arzt“, dessen Diagnosen und Therapien vom Patienten kritisch im Netz hinterfragt werden können.
Während immer mehr Hausärzte sich mit Dr. Google herumschlagen müssen, indem ihre Kundschaft schon mit vorgefertigten Diagnosen aus dem Internet auftaucht, etabliert sich hier ein neues Phänomen: die Digitalmedizin. Deren Patienten erscheinen nicht mit der Googlediagnose Bauchschmerzen gleich Leberentzündung oder Appendizitis, sondern präsentieren selbstbewusst ihre eigenerstellte Patientenakte, basierend auf ernstzunehmenden medizinischen Aufzeichnungen und Auswertungen.
Das klassische Arzt-Patienten-Verhältnis unterliegt einer heftigen Dynamik – der Arzt bekommt eine 24/7-Konkurrenz, die zudem oft wesentlich besser über spezielle Krankheitsbilder informiert ist. Schon heute sind die KI-gestützten Analyseprogramme bei der Beurteilung von Röntgen-, CT- und MRT-Bildern den meisten Radiologen überlegen.
Die langsam mahlenden Mühlen der Selbstverwaltung und Gesundheitspolitiker werden der stürmischen Entwicklung der Digitalmedizin wenig entgegenzusetzen haben. Sie läuft vielmehr international, außerhalb der deutschen bzw. europäischen Gesetzgebung ab. Patienten und Angehörige werden sich ungehindert im Internetangebot bedienen, wie sie dies schon bei den Socialmedia getan haben. Stört sich ein überzeugter Amazon-, WhatsApp-, Facebook-, Twitter- oder Instagram- Nutzer noch an den Warnungen der deutschen Datenschützer? Er wird weiterhin mit den Füßen abstimmen und das leistungsfähigste und kostengünstigste Angebot nutzen wollen.
Fehlt dem modernen Patienten in der Digitalmedizin nicht doch etwas Entscheidendes? Möchte er im kritischen Ernstfall nicht doch lieber zu einem honorigen Chefarzt aufblicken, der jahrzehntelange Kompetenz ausstrahlt? Und hat nicht der in Ehren ergraute Hausarzt ein nicht fassbares Hintergrundwissen über die persönliche Lebensgeschichte, die familiären Anlagen und die individuelle Leidensfähigkeit seines Patienten? Die Zukunft liegt wohl in der abgestimmten Kooperation von Arzt, Patient und Technik, diesmal allerdings mit einer etwas veränderten Gewichtung.
Über den Autor:
Manfred Kindler, geb. 1952, lebt in Werne an der Lippe, an der Grenze zwischen dem katholischen Münsterland und dem „heidnischen“ Ruhrgebiet, was an sich schon eine gewisse Spannung ausmacht. Anfangs ausgebildet als Medizin-Ingenieur, schaute er in seinem abwechslungsreichen Leben in verschiedene Berufe und Branchen hinein, bis er sich schließlich in den letzten zwanzig Jahren ausgiebig der Entwicklungshilfe widmete. Seine dicken Reisetagebücher sind leider noch unter Verschluss und können wohl erst nach seinem Tode veröffentlicht werden, da sie einige politische Brisanz enthalten. Als Ausgleich verfasst er seit vielen Jahren Kurzgeschichten über die Wirrnisse des Lebens und bösartige Glossen zum Geschehen im Gesundheitswesen.