Quantencomputer in der Medizin – Ein Blick vorwärts

Wir starten ins neue Jahr mit einem Gastbeitrag von Manfred Kindler:

Im Herbst 1983 startete an der CalTech der geniale Physiker und spätere Nobelpreisträger Richard Feynman seine Vorlesungsreihe über das maschinelle Rechnen. In seinem Buch Feynman Lectures On Computation beschrieb er in Kapitel 6 „Quantum mechanical Computers“ ein Quantensystem zur Durchführung von Berechnungen. 1994 löste Peter W. Shor mit einem Quantenalgorithmus das Jahrtausende alte Faktorisierungsproblem, allerdings nur theoretisch. Denn für das Knacken einer 2048 Bit Verschlüsselung würde ein Supercomputer 317 Billionen Jahre benötigen, ein Quantencomputer allerdings nur zehn Sekunden.

Anfänge der Quantenrechner

2001 demonstrierte IBM mit einem Quantenrechner der Größe 7 Qubits die Faktorisierung von 15 in die Primzahlfaktoren 3 und 5. 1998 beschreibt Dan Brown in seinem Roman Diabolus einen Supercomputer des amerikanischen Geheimdienstes NSA, der in kürzester Zeit jeden Code entschlüsseln kann. 2011 liefert D-Wave Systems den ersten kommerziellen Quantencomputer an Lockheed Martin aus.

Der NSA- und CIA-Systemadministrator Edward Snowden enthüllte 2013 die streng geheimen Überwachungsprogramme der Geheimdienste und berichtet in seinem Buch Permanent Record, dass die NSA mit Hochdruck und einem Budget von 80 Millionen US-Dollar an der Quantencomputertechnologie und resistenten Kryptographieverfahren arbeitet. Kleine Anmerkung am Rande: Für das Knacken der heutigen Verschlüsselungstechniken benötigt man allerdings 2300 – 4000 Qubits.

Seit 2017 ermöglicht IBM Q Experience der interessierten Öffentlichkeit den Zugriff auf ein Cloud-basiertes Quantencomputing und erweiterte im Mai 2018 das System auf zwei 5-Qubit-Prozessoren und einen 16-Qubit-Prozessor. Mittlerweile haben über 160.000 Benutzer mehr als fünf Millionen Experimente durchgeführt und darüber 72 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht.

Wer es mal selbst ausprobieren möchte: https://quantum-computing.ibm.com/

Das globale Wettrennen

Und vor kurzem verkündete Google die Sensation: die quantum supremacy. Der 54-Qubit-Computer löste eine spezielle Rechenaufgabe in 200 Sekunden, für die der weltschnellste Supercomputer 10.000 Jahre benötigt hätte. Auch wenn Googles Quantencomputer von praktischen Anwendungen noch weit entfernt ist und IBM anmerkte, dass das Problem auch klassisch in 2,5 Jahren lösbar wäre, so wird doch deutlich, dass die Zeit der Quantencomputer jetzt rasant startet. Da wollen auch die Europäer nicht zurückfallen und planen bis Ende 2021 am Forschungszentrum Jülich den Bau des 100-Qubit-Computer OpenSuperQ. Anfang Oktober 2019 fand in Schweden das erste Progress Meeting statt. „Wir hatten ein großartiges erstes Jahr, aber die eigentliche Herausforderung liegt vor uns“, fasste Koordinator Frank Wilhelm-Mauch am dritten Tag das Ergebnis zusammen.

In den vergangenen drei Jahren sind die öffentlichen Fördermittel weltweit beispiellos gestiegen. Die künftigen Einsatzgebiete der Quantenrechner sind nicht nur in der Materialforschung, dem Supply Chain Management, der Logistik und dem Finanzwesen zu sehen.Weitere Schwerpunkte sind die künstliche Intelligenz und die pharmazeutische Forschung.

Quantenchemie

Gerade in der Quantenchemie werden besondere Durchbrüche erwartet, denn durch quantenmechanische Berechnungen ist es im Prinzip möglich, alle chemischen Phänomene quantitativ vorherzusagen. Allerdings sind selbst die größten Supercomputer kaum in der Lage, alles andere als die einfachste Chemie zu modellieren. Quantencomputer erschließen völlig neue Sichtweisen zum Verständnis der komplizierten Bindungen und Reaktionen von Molekülen. Der Einsatz ermöglicht die Entwicklung neuer Katalysatoren, organischer Solarzellen, leistungsstärkerer Batterien und neuer Medikamente für die personalisierte Medizin.

Am Institut für Quantenoptik und Quanteninformation in Innsbruck verwendeten die Wissenschaftler einen Ionenfallen-Quantencomputer mit 20 Quantenbits und simulierten auf bis zu vier Quantenbits die Energiezustände der Bindungen von molekularem Wasserstoff und Lithiumhydrid. Ein Team von der ETH Zürich und Microsoft Research präsentierte erstmals die Berechnung einer komplexen chemischen Reaktion mithilfe eines Quantencomputers „von moderater Größe“.  Am Beispiel des Enzyms Nitrogenase zeigten die Forscher einen Weg auf, wie mit nur 100 bis 200 Qubits der hochkomplexe Reaktionsmechanismus innerhalb von einigen Tagen aufgeklärt werden kann. Im Juni 2019 startete der Pharma-Multi Merck eine Kooperation mit dem Karlsruher Startup HQS Quantum Simulations zur Entwicklung von Software für die Quantenchemie. 

Digitaler Zwilling

Ein besonders vielversprechendes Arbeitsgebiet in der Medizin ist die Schaffung von virtuellen Menschen durch individualisierte Computersimulationen – die Digital Twins. In den 1970er Jahren entwickelten Guyton und Kollegen ein mathematisches Modell für die Simulation physiologischer Vorgänge bei der Regulierung des Blutdrucks. Dreißig Jahre später wurde auf diesen Grundlagen HumMod als „das vollständigste mathematische Modell der menschlichen Physiologie, das jemals erstellt wurde“ vorgestellt. Mehr als 1.500 Gleichungen beschreiben 8.000 Variablen wie Körperflüssigkeiten, Kreislauf, Elektrolyte, Hormone, Stoffwechsel und Hauttemperatur. Im Oktober 2018 wies allerdings ein Team um Theodore W. Kurz durch einen Validierungstest ein Versagen der Computersimulationen bei klinisch realistischen Salzaufnahmen nach. Anscheinend wurden im Modell Autoregulierungen des Blutflusses nicht berücksichtigt.

Die Entwicklung von digitalen Zwillingen nimmt dennoch rasante Formen an. An der Stanford University wurde mit The Living Heart auf der Basis eines 2D-Ultraschall-Scans eines Menschen ein personalisiertes 3D-Modell eines Herzens erstellt, um damit Medikamente während der Entwicklung auf schädliche Nebenwirkungen zu testen.

Digitaler Zwilling

Siemens Healthineers stellte eine Datenbank mit mehr als 250 Millionen kardiologischen Bildern, Berichten und Betriebsdaten zusammen. Ein KI-System beobachtete daraufhin in einer sechsjährigen Studie einhundert digitale Herz-Zwillinge von Patienten mit Herzinsuffizienz, prognostizierte den Therapieverlauf und verglich ihn mit den tatsächlichen Ergebnissen. Hewlett Packard Enterprise arbeitet im Blue Brain Project an der digitalen Simulation des Säugetiergehirns, aber auch IBM, Microsoft, General Electric, Philips, MIT und viele andere forschen mit Hochdruck am virtuellen Menschen.

 In digitalen Zwillingen kann man somit individuell Krankheitszustände und -anfälligkeiten sowie Einflussfaktoren wie Alter, Lebensstil und genetischer Hintergrund abbilden. In Verbindung mit menschlichen Organen auf einem Chip (Lab-on-a-chip, Organ-on-a-chip, Patient-on-a-chip) lassen sich langwierige und kostspielige klinische Studien vermeiden und Wirkstoffe schneller entdecken.

Das neuronale Netzwerk AtomNet von Atomwise untersucht täglich mehr als 100 Millionen Verbindungen aus einer Datenbank molekularer Strukturen. In weniger als einem Tag fand der Supercomputer zwei Kandidaten zur Behandlung des Ebola-Virus.

Genomik

Die wachsende Verfügbarkeit der Daten von Wearables, Insideables und eHealth-Apps ermöglicht nicht nur die Erstellung personalisierter Modelle für Patienten, die durch die übermittelten Gesundheits- und Lebensstilparameter kontinuierlich angepasst werden können. Big-Data-Analysen erlauben auch den Vergleich der individuellen Daten mit der gesamten Bevölkerung für eine schärfere statistische Definition des normalen oder gesunden Zustands, um maßgeschneiderte Aktionen für die Gesundheitsvorsorge zu entwickeln.

Persönliche Gesundheitssensoren sendeten 2013 bereits 4,4 Zettabyte (gleich 4,4 Milliarden Terabytes) an medizinischen Daten. 2020 wird mit einer Verzehnfachung gerechnet. Nur noch Quantencomputer werden in der Lage sein, diese enormen Datenmengen zu verarbeiten und zu verstehen. Hinzukommen über 2.000 Gentests, die den Patienten ihre genetischen Risiken für Krankheiten mitteilen und die Mediziner bei der Diagnose von Krankheiten zu unterstützen. Die Sequenzierung des gesamten Genoms ist für weniger als tausend Dollar erhältlich.

Quantencomputer ermöglichen eine schnellere Sequenzierung und eine umfassendere Analyse des gesamten Genoms. Die Vorhersagen (prädiktive Gesundheit) sind zuverlässiger, da Quantencomputer mehr Informationen als herkömmliche Computer berücksichtigen und sogar komplette Genome in Gesundheitsakten integrieren können. Die Überwachung von Patienten durch sensorische Systeme könnte viele Krankenhausbesuche überflüssig machen.

Entscheidungsunterstützung

Auf Pubmed gibt es 31 Millionen medizinische Artikel. Ein einzelner Arzt kann diese Informationen in seinem Leben nicht lesen, zudem würden zwischenzeitlich Millionen neuer Studien herauskommen. Die KI IBM Watson wurde dazu entwickelt, um Millionen von Studien in einer Sekunde durchzuarbeiten. Dadurch kann er alle Studien zu einer Fragestellung auf einmal durchgehen, Zusammenhänge und Ursachen finden, und dabei Diagnosen oder Behandlungsmöglichkeiten entdecken, die der menschliche Arzt selbst niemals hätte herausfinden können. Quantencomputer könnten eine erweiterte Version von PubMed erstellen, in der sie die Informationen gleich in Form von Qubits darstellen, da niemand außer dem Computer die Studien „lesen“ würde.

Sichere Verschlüsselung

Die Verwendung von Quantenunsicherheit erlaubt Quantencomputern eine unhackbare Verschlüsselung der sensiblen medizinischen Informationen: elektronische Gesundheitsakten, genetische und genomische Daten oder andere private Informationen, die das Gesundheitssystem über unseren Körper generiert.

Im Januar 2018 zeigte ein gemeinsames China-Österreich-Team, dass eine Kommunikation zwischen Kontinenten mit Quantenverschlüsselung möglich ist. Die Kombination der Quantenkommunikation von Satelliten mit dem Glasfasernetz in Peking war der erste praktische Beweis für die Technologie, die es Netzwerken ermöglicht, die Quantenverschlüsselung zu verwenden.

Quantenbiologie

Allerdings müssen sich die Fehlerraten der Qubits für eine praktische Anwendung noch wesentlich verringern, denn Quantenchips sind sehr instabil und anfällig für Störungen durch Wärme und Strom. Sie benötigen zur Abschirmung des molekularen Rauschens eine Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt und eine totale Isolation von der Umwelt durch ein Hochvakuum.

Daher wurden die Quanteneffekte bislang nur in Molekülen, Atomen und sub-atomaren Teilchen beobachtet. Jeglicher Kontakt der Quanten mit der Außenwelt führt zu einem Kollaps der Wellenfunktion (Dekohärenz) und das System funktioniert nur noch nach den klassischen Prinzipien der Thermodynamik.

Fast unsere gesamte Technologie beruht auf Quantenmechanik: Halbleiterchips, Laser, Smartphones, MRT-Scanner. GPS-Navigation, Elektronenmikroskopie könnten ohne Quanteneffekte nicht funktionieren. Selbst die Kernfusion der Sonne kann nur über den Tunneleffekt stattfinden. In den letzten Jahren beobachteten Physiker auch Quantenphänomene in Salzkristallen und in lebenden Zellen.

In lebenden Organismen fanden Quantenbiologen plötzlich das ganze Sortiment der Quantenwelt. Der Tunneleffekt erlaubt es den Mitochondrien in den Zellen Oxidationsenergie aus ATP zu gewinnen. Vermutlich ermöglichen getunnelte Elektronen unseren Geruchssinn, indem nicht nur die Form, sondern auch die Schwingungsfrequenz eines Moleküls analysiert wird. Dagegen spielen getunnelte Protonen in den Enzymreaktionen unseres Stoffwechsels eine wichtige Rolle, darunter auch beim Abbau von Alkohol. Untersucht wird noch deren Rolle bei der Teilung des Erbguts und dabei entstehenden Mutationen.

2004 wurde bei Rotkehlchen der Kompass von Zugvögeln in einem quantenverschränkten Lichtrezeptor der Augennetzhaut gefunden. Bei der pflanzlichen Fotosynthese werden Lichtphotonen von Chloroplasten eingefangen, die mithilfe des Chlorophylls eine fast 100-prozentige Effizienz der Energienutzung und Produktion von organischen Molekülen aufweisen. Dieser Vorgang nutzt den Welle-Teilchen-Dualismus in einem abgeschirmten Lichtsammelkomplex mit etwa 50 Atomdurchmessern. Das molekulare Rauschen der Zellen unterstützt die Quantendynamik durch exakt aufeinander abgestimmte Schwingungen. 

Wie schafft es aber das Leben, die Quantenkohärenz im warmen und feuchten Umfeld der Biomoleküle in den Zellen aufrechtzuerhalten? Nun, die Quanteneffekte laufen zeitlich begrenzt in einem einzelnen Molekül ab, welches mit seiner geordneten Struktur die Überlagerung gegenüber ungeordneter Energie von außen abschirmt. Wäre es möglich, Quantencomputer durch Nutzung der jahrmillionenalten Lösungen in der Natur auch bei Zimmertemperatur zu betreiben, würde dies die Entwicklung schlagartig revolutionieren.

Möglicherweise müssten wir auch den Sterbeprozess komplett hinterfragen:

„Kann diese Abschirmung nicht mehr aufrechterhalten werden und Dekohärenz tritt ein, dann kommen lebenswichtige Prozesse zum Stillstand und die Zelle stirbt ab. Das Aufrechterhalten dieser Quanteneffekte wäre damit sozusagen ein Grundmerkmal von Leben.“

(Zitat aus: Al-Khalili J, McFadden J (2014) Life on the edge. Bantam, London)

Über den Autor:

Manfred Kindler, geb. 1952, lebt an der Grenze zwischen dem katholischen Münsterland und dem „heidnischen“ Ruhrgebiet, was an sich schon eine gewisse Spannung ausmacht. Mit seinem Abschluss als Diplom-Ingenieur für Biomedizinische Technik schaute er in seinem abwechslungsreichen Leben in verschiedene Berufe und Branchen des Gesundheitswesens hinein, bis er sich schließlich in den letzten zwanzig Jahren neben seiner Bestellung als IHK-Sachverständiger und Gerichtsgutachter der Entwicklungshilfe im Sektor National Quality Infrastructure widmete.