Serious (und not so serious) Games

Mögen die Spiele beginnen.

Computerspiele werden in den Medien abwechselnd (oder auch gleichzeitig) als Untergang des Abendlandes und als dessen Rettung gehandelt: Sie sind angeblich schuld an dicken, sozial isolierten Kindern und gewalttätigen Jugendlichen. Ihnen wurde aber auch zugeschrieben, dass sie die Hand-Auge-Koordination verbessern, sogar bessere Chirurgen produzieren, und unsere kognitiven Fähigkeiten im Alter erhalten.

Um den letztgenannten Punkt wurde schon vor Jahren heiß debattiert, und zwar zwischen den Herstellern von sogenannten Brain Games und universitären Neurowissenschaftlern und kognitiven Psychologen. Die Forscher gaben 2014 eine Erklärung heraus: Die Versprechungen der Hersteller von Brain Games seien demnach oft an den Haaren herbeigezogen (meine Wortwahl – die Unterzeichner drückten sich etwas diplomatischer, aber nicht weniger entschieden aus).

Angesprochen fühlten sich beispielsweise die US-amerikanischen Hersteller Lumosity, Cogmed und BrainHQ. Auch in Deutschland und anderen Ländern gibt es viele Anbieter von Hirntrainingssoftware – bei uns oft auch als „Gehirnjogging“ vermarktet. Als eins der ersten Hirntrainingsspiele erfolgreich in Deutschland war zum Beispiel Dr. Kawashimas Gehirnjogging (erinnert sich noch jemand?), ursprünglich in Japan entwickelt.

Wenn man nachweisen will, dass ein Spiel klüger macht, gibt es zahlreiche Fußangeln, die die Ergebnisse der eigenen Studie unklar oder gar wertlos machen können:

  • Allein schon das Bewusstsein, in einer Studie beobachtet zu werden, kann dazu führen, dass die Probanden in Tests besser abschneiden – der Placebo-Effekt oder, in diesem Fall, Hawthorne-Effekt. Um diesen aus den Ergebnissen herausrechnen zu können, braucht man auch eine Placebo-Gruppe in der Studie: Eine Gruppe, die ebenfalls ein Training bekommt – von dem man aber nicht erwartet, dass es die kognitiven Fähigkeiten verbessert.
  • Untersucht die Studie tatsächlich das, was sie verspricht? Wenn die Ergebnisse zeigen, dass Spieler durch regelmäßiges Training bessere Scores im Spiel erreichen, dann hat die Studie genau das bewiesen: Dass Übung dazu führt, dass man im Spiel besser abschneidet. Nicht etwa, dass man bei Alltagsaufgaben mehr Konzentrationsvermögen oder ein besseres Gedächtnis hat. (Dies ist übrigens auch einer der wichtigsten Kritikpunkte an IQ-Tests: Messen sie, ob jemand intelligent ist – oder ob er/sie in IQ-Tests gut abschneidet?)
  • Sind die Ergebnisse statistisch belastbar und sind die Probanden den Leuten ähnlich, die das Spiel hinterher benutzen sollen? Wenn ein Unternehmen untersuchen will, welche Auswirkungen ein regelmäßiges „Gehirnjogging“ mit ihrer eigenen Software auf Rentner hat, dann sollte die Gruppe der Probanden besser aus 500 Rentnern bestehen – nicht aus zehn Praktikanten, die im Supermarkt noch ihre Ausweise vorzeigen müssen.

Eine Kritik an der Kritik am Hirnjogging lautet: Sollte man nicht einfach trainieren (oder trainieren lassen), obwohl der Nutzen dieser Spiele unklar ist? Es könnte ja doch was bringen?

Eher nein. Scientific American weist ganz richtig darauf hin, dass man in der Zeit, die man mit Hirntraining unbewiesener Effektivität verplempert, nämlich stattdessen auch sinnvolle Dinge tun könnte: Körperliches Training beispielsweise verlangsamt erwiesenermaßen den geistigen Abbau.

Schon in der Konsensuserklärung von 2014 ermutigten jedoch die Wissenschaftler Unternehmen dazu, weiter Spiele zu entwickeln und Studien durchzuführen. Das ließ die Branche sich nicht zweimal sagen: Die sogenannten Serious Games – also Spiele, die einem ernsthaften Zweck dienen – haben sich zu einem beachtlichen Wirtschaftszweig gemausert. Auf der Cebit fand dieses Jahr schon die zehnte Serious Games Conference statt, auf der nicht nur „gesunde“ Spiele präsentiert wurden. Der Boom der Serious Games wurde dabei nicht zuletzt möglich gemacht durch Techniken wie die Microsoft Kinect, mit denen man Virtual  Reality umsetzen kann.

Ein Anwendungsfeld der neuen Serious Games: Rehabilitation, also Übungen zur Wiederherstellung von Alltagsfähigkeiten nach einer Erkrankung, beispielsweise Schlaganfall. Für diesen Zweck entwickelt etwa das italienische Unternehmen imaginary s.r.l. Reha-Spiele, die auch innerhalb eines europäischen Forschungsprojekts namens Rehab@Home getestet wurden. In ihrer Spielesuite REHABILITY trainieren Patienten, die nach neurologischen Erkrankungen wie Schlaganfall oder Parkinson nur noch eine eingeschränkte Körperkontrolle haben, vor einer Kinect motorische Fähigkeiten. Dabei wird versucht, Alltagssituationen abzubilden: Der Patient bewegt sich mit einem Einkaufswagen durch einen Supermarkt, deckt den Frühstückstisch oder setzt ein Obstsalat-Puzzle zusammen (so gesund, diese Italiener…).

imaginary s.r.l. sind dabei vorsichtiger als Dr. Kawashima & Co.: Die CEO, Lucia Pannese, sagte in unserem Gespräch ausdrücklich, dass REHABILITY die Arbeit mit dem Physiotherapeuten unterstützen, nicht ersetzen soll. Jede Installation wird individuell an den Patienten angepasst – auch das übernimmt der Physiotherapeut. Man kann die Spiele somit auch nicht ohne vorherigen Kontakt zu imaginary zu Hause ausprobieren (schade). Aber: Sie werden immer mal wieder auf Veranstaltungen außerhalb Italiens präsentiert – dann kann man auch probespielen.

Auch deutsche Unternehmen sind umtriebig im Bereich Serious Games. Nur eins der Beispiele: RetroBrain R&D haben die MemoreBox herausgebracht – ebenfalls eine Suite mit gestengesteuerten Bewegungsspielen. Die MemoreBox wird in Seniorenheimen eingesetzt und soll helfen, alte Menschen länger körperlich und geistig fit zu halten. Tut sie das tatsächlich? Das untersucht das RetroBrain-Team im Moment noch gemeinsam mit der Krankenkasse Barmer. Auch die Kasse hofft mit Sicherheit auf positive Ergebnisse – schließlich kosten die alten Leute die Kasse wesentlich weniger Geld, wenn sie bis ins hohe Alter rüstig bleiben. Das ist überhaupt der Vorteil von Präventionsprogrammen: Hier decken sich die Interessen der Krankenkassen aufs Feinste mit den Interessen der Versicherten – also uns – selbst, und stehen nicht miteinander in Konflikt wie beispielsweise beim Streit um die Erstattung von Medikamenten und anderen Therapien.

Während die MemoreBox-Spieler heute noch ziemlich unelegante Zettel mit QR-Codes um den Hals tragen müssen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Spiele so intelligent sind, dass sie die Teilnehmer auch anhand ihrer körperlichen Merkmale unterscheiden können. (Makellose Dauerwelle auch nach der zehnten Runde auf dem virtuellen Motorrad? Das muss Oma Schulz sein.)

Je intelligenter die Spiele werden, desto nahtloser können sie in eine vernetzte Umgebung integriert werden. Das ist das Ziel des Forschungsfeldes Ambient-Assisted Living (AAL): Intelligente Wohnumgebungen zu schaffen, in denen man mit technologischer Unterstützung selbständig alt werden kann. Oma Schulz muss dann zum Motorradfahren womöglich gar nicht mehr ins Seniorenheim, sondern lädt ihre Bikerfreundinnen per Videokonferenz zur Tour ein.

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